Knecht – Die Schattenherren II
betrachtete den Schutzschild mit gemischten Gefühlen. Ohne ihn wären sie eine Beute der Geister geworden, daran war nicht zu zweifeln. Aber auch ihre unheimlichen Beschützer waren sicher keine Menschenfreunde. Die rauchigen Gestalten mit Hörnern und Klauen hätten direkt Albträumen entstiegen sein können. Vielleicht war das tatsächlich ihre Heimat, wo ihre geschlitzten Augen unvorsichtige Schläfer suchten, um die spitzen Fangzähne in ihren Verstand zu schlagen.
Die beiden Osadroi saßen gänzlich unbewegt neben dem Hauptmast. Sie hatten es abgelehnt, wieder unter Deck gebracht zu werden, und so hatte man einige Essenzkristalle heraufgeholt. Wer wusste schon, wann sie wieder Zauber würden weben müssen? Bren hoffte, dass sie dazu in der Lage wären. Das Licht des Tages schien weit genug gedämpft, um ihnen keine Schmerzen zu bereiten. Man sagte, dass junge Osadroi sogar bei dichter Bewölkung erwachen konnten. Gadior und Velon aber waren jahrhundertealt, bei ihnen zeigte sich die lähmende Wirkung. Gadior dämmerte vor sich hin, Velon war so starr, dass er auch eine Statue hätte sein können.
Rufe lenkten Brens Aufmerksamkeit auf die Boote.
»Strudel«, meldete Boldrik, der Hauptmann, der nach Bren der höchste Offizier der Expedition war.
Bren folgte seinem vorausdeutenden Arm und sah weiße Spiralen in den Wellen. Dort wurde das Wasser in die Tiefe gerissen, was eine Strömung verursachte, gegen die die Ruderer ankämpften.
»Sie liegen außerhalb des Schilds«, sagte Boldrik.
»Ja.« Die rauchgraue Wand verdunkelte die Sicht auf die Erscheinungen. »Offenbar entstammen sie der Wirklichkeit, die keinen Einlass durch den Schutz hat, der uns umgibt.«
Die Mannschaften versuchten, direkt vor dem Bug zu fahren, um möglichst viel Freiraum zur Umgrenzung des Schilds zu wahren. Dadurch kamen sie sich so nahe, dass sie gegeneinanderstießen. Das Holz des kleineren Ruderboots ächzte bedenklich.
»Bring sie zur Ordnung!«, befahl Bren Boldrik.
Er selbst ging zum Hauptmast und hockte sich vorsichtig vor Gadior. »Herr …«, begann er.
Gadior lächelte dünn. »Keine Sorge, ich schlafe nicht. Was begehrst du?«
Bren schilderte die Lage. »Aber es nützt uns nichts, dass diese Strudel der Welt der Geister entstammen mögen statt unserer eigenen. Sie ziehen das Wasser ab. Da es von innerhalb des Schutzschilds nachfließt, entsteht ein Sog, der die Boote letztlich aus dem geschützten Bereich reißen wird.«
»Lass mich sehen, was ich tun kann«, flüsterte Gadior rau. Er schloss die Augen nicht, sodass Bren sah, wie seine Pupillen nach oben wegdrehten, während er glitzernde Essenz aus den vor ihm ausgelegten Kristallen rief und veratmete.
Vielstimmiges Stöhnen lief durch den Schild, der sie umgab. Die dunklen Gestalten darin wirkten gehetzt, flogen mit ausgebreiteten Armen durch den Rauch, als wollten sie etwaseinfangen oder zusammenhalten. Hinter dem Heck näherte sich der Schirm, bis er beinahe das Achterdeck berührte, aber vor dem Bugspriet dehnte er sich aus. Wie ein Fell, das man beim Gerben weitete, beulte er sich nach vorn. Dahinter rasten noch immer die weißen Wesenheiten des Seelennebels umher.
»Pullt!«, brüllte Boldrik.
Bren eilte neben ihn an die Reling.
Die Pinasse lag exakt vor dem Bugspriet der Mordkrake , aber das kleinere Ruderboot war weit nach steuerbord abgekommen und in den Sog eines Strudels geraten. Es beschleunigte seine Seitwärtsbewegung, wurde immer weiter aus dem Kurs gezogen und näherte sich dem Rand des Schutzschilds auf zehn Schritt. Das Wasser fiel dort ab wie ein Bach, der einen Hang hinunterstürzte. Die Männer schrien und legten sich in dieRiemen, aber in ihrer Panik ging die Koordination verloren. In einer willkürlichen Kakofonie tauchten die Blätter ins Wasser, schlugen aufeinander, behinderten sich gegenseitig.
Einem tollwütigen Wolfsrudel gleich warf sich eine Handvoll weißer Gestalten gegen den Schutzschirm. Die dunklen Dämonen stellten sich ihnen entgegen, wurden aber zurückgedrängt. Auch der Strudel, der bislang mit der Geschwindigkeit des Schiffs gezogen war, änderte seine Richtung und kam näher heran.
Geistesgegenwärtig warf ein Matrose einen Enterhakenzur Pinasse hinüber. Die Kameraden fingen ihn und verkeilten das Eisen an ihrer Reling, um dem Boot einen Anker zu verschaffen.
Diesen hatte es auch dringend nötig. Das Wasser strömte nun so steil in den Schlund, dass die Ruderer am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen waren. Einige
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