Knochen im Kehricht: Ein Eifel-Krimi (German Edition)
Regine aus der kalten Rinderbrühe gefischt – es wurde tatsächlich nur Hühnersuppe bestellt – und Linus damit beglückt. Angesichts des aktuellen Geschehens hatte ich den Gästen die nicht ganz geleerten Suppenteller nachgesehen und mir die alte Gastwirtregel ins Gedächtnis gerufen: Sie essen dich arm, und sie trinken dich reich.
Aber Nachsicht hat ihre Grenzen.
Ich schob mich durchs Lokal zu den Fenstern hin und wollte einem alten Herrn mit schütterem Haar und wachen blauen Augen den Knochen entreißen. Er hielt ihn so fest, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten.
»Das ist Beweismaterial!«
Er lächelte mich freundlich an.
»Natürlich«, sagte er. »Sehr interessant. Dies ist eindeutig ein menschlicher Unterschenkelknochen. Kann ich als Medizinstudent sofort erkennen. Ja, da staunen Sie, was? Ich mache demnächst mein Erstes Staatsexamen. Man muss im Alter nicht nur Karten spielen, Kreuzworträtsel oder Sudokus lösen und mit dem Bus herumfahren, das werden Sie irgendwann auch noch erfahren. Bitte, darf ich Ihnen eine sehr persönliche Frage stellen?«
»Geben Sie mir jetzt den Knochen!«
»Da habe ich meine Frage aber höflicher gestellt«, sagte er vorwurfsvoll, starrte auf die Finger meiner rechten Hand, die den Knochen umklammerten, und stellte mit freudiger Stimme fest: »Wie schön, Sie sind nicht verheiratet!«
Der Knochen fiel zu Boden. Von der Bemerkung erschreckt, war mir entgangen, dass auch der Mann das Beweisstück losgelassen hatte. Der bejahrte Medizinstudent bückte sich erstaunlich schnell, hob ihn auf und reichte ihn mir mit einer tiefen Verbeugung. »Konrad Meissner. Ich stehe Ihnen jederzeit zu Diensten, schöne Frau. Wollen Sie sich nicht ein wenig zu mir setzen, damit wir einander besser kennenlernen können? Vielleicht stellt sich ja heraus, dass wir Gemeinsamkeiten haben.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, um ihr Zucken nicht sichtbar werden zu lassen. Mit Anfang fünfzig muss man sich wohl gefallen lassen, von Greisen angemacht zu werden, dachte ich. Vielleicht müsste ich sogar dankbar sein, dass mich überhaupt noch einer als Sexualobjekt wahrnimmt – zu einer Zeit, in der uralte Schriftsteller die moderne Literatur mit Geschichten über die mir unverständliche Leidenschaft blutjunger geiler Frauen zu Großvaterfiguren bereichern.
Mit hoch erhobenem Knochen stürmte ich zu Jupp zurück.
»Wie kommt der Knochen ins Restaurant?«, fuhr ich den vierschrötigen Mann an, der unglücklich an die Wand gelehnt stand und dessen zitternde Hände ausnahmsweise mal zu nichts zu gebrauchen waren. »Der ist doch Beweismaterial, den müssen wir der Polizei aushändigen!«
»Liegen doch noch genug Knochen drüben rum«, murmelte er, griff dann aber doch nach dem grauen Beweisstück und schob von dannen.
Ich atmete tief durch, sah und hörte mich um. Schlecht gelaunt und unter mächtigem Druck hatte diese Reisegruppe mein Lokal gestürmt; jetzt, nachdem sie sich erleichtert und den Knochen der Endlichkeit herumgereicht hatte, erfüllte sie die Einkehr mit Leben.
Gudrun verteilte emsig Dessertkarten, und Regine wollte ihr hingehaltene Gläser gerade wahlweise mit einer neuen Ladung Schlehenlikör oder Eifelbrand füllen. Da nahm ihr die stämmige alte Dame mit dem faltigen Puppengesicht sanft die Flaschen ab und stellte sie hinter sich auf den Tisch.
»Es reicht«, sagte sie laut.
Gehorsam wurden die Gläser zurückgezogen. Offenbar akzeptierten alle, dass diese Frau in Ermanglung eines Animateurs und des Busfahrers die Leitung übernahm. Sie forderte die Herrschaften höflich auf, sich ab jetzt zurückzuhalten, da man ja noch ein Programm in Belgien zu absolvieren habe. Und dieses möglichst nüchtern.
Dass Gaststätten dem Alkoholismus Vorschub leisten, ist nicht meine Erfindung. Aber unter anderem bestreite ich davon meinen Lebensunterhalt, so wie die Ärzte in Suchtkliniken den ihren ja auch. Deshalb schritt ich ein.
»Es kann noch eine Weile dauern, bis Herr Kerschenbach mit dem Diesel zurück ist«, erklärte ich laut, hob aufmunternd die Flaschen und setzte hinzu: »Uns geht der Sprit eben nicht so schnell aus. Der Kaffee übrigens auch nicht, falls jemand noch eine Tasse bestellen will. Herr Kerschenbach wird vor der Weiterfahrt bestimmt auch einen haben wollen.«
»Er trinkt grundsätzlich nur Tee.«
Ich sah die Dame fragend an.
»Ich bin Frau Kerschenbach.«
»Ach, Ihr seid seine Mutter!«, erklärte Regine überrascht.
Der schmale Mund wurde noch ein
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