Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
Nicolet wurde um die Jahrhundertwende exhumiert und neu begraben, und da brauchten sie nur noch Platz für ihre Knochen.«
»Glauben Sie, daß sie es ist?«
Ich durchbohrte ihn mit einem Blick. Seine Augen zuckten so heftig, daß ihm die Brille auf der Nase hüpfte.
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie was brauchen.«
Ich entfernte weiter Erde, bis ich den Deckel des Innensargs freigelegt hatte. Er trug zwar keine Namenstafel, war aber reicher verziert als der äußere, mit einem kunstvoll geschnitzten Schmuckband, das parallel zum sechseckigen Deckelrand verlief. Wie der äußere Sarg war auch der innere eingebrochen und voller Erde.
Nach zwanzig Minuten kam Daniel zurück.
»Falls Sie Röntgenbilder brauchen, ich wäre gerade frei.«
»Das geht nicht wegen der Bleiverkleidung«, sagte ich.
Daniel verlagerte sein Gewicht. Er stand nie auf beiden Beinen, sondern hatte immer eins abgespreizt, wie ein Strandvogel, der sich gegen eine Welle stemmt.
»Ich wäre jetzt soweit, den inneren Sarg zu öffnen.«
»Kein Problem.«
Auch hier war das Holz weich und die Nägel leicht herauszuziehen.
Noch mehr Erde. Ich hatte erst zwei Handvoll entfernt, als ich den Schädel entdeckte. Ja. Hier war jemand zu Hause.
Langsam kam das Skelett zum Vorschein. Die Knochen lagen nicht in anatomischer Anordnung, sondern parallel zueinander, als hätte man sie zusammengebunden, bevor man sie in den Sarg legte. Das erinnerte mich an die archäologischen Ausgrabungen, bei denen ich zu Beginn meiner Karriere mitgearbeitet hatte. In präkolumbianischer Zeit hatten einige Eingeborenengruppen ihre Toten auf Gerüsten aufgebahrt, bis die Knochen blank waren, und sie dann fürs Begräbnis gebündelt. So war auch Élisabeth beerdigt worden.
Ich hatte die Archäologie geliebt. Und tat es immer noch. Es ist schade, daß ich in dieser Richtung nur noch so wenig arbeite, aber im letzten Jahrzehnt hat meine Karriere eine andere Richtung eingeschlagen. Unterrichten und forensische Arbeit nehmen jetzt meine gesamte Zeit in Anspruch. Élisabeth Nicolet gestattete mir einen kurzen Ausflug zu meinen Ursprüngen, und ich genoß ihn sehr.
Ich nahm die Knochen heraus und arrangierte sie so, wie ich es am Tag zuvor getan hatte. Sie waren trocken und zerbrechlich, aber diese Person war in einem viel besseren Zustand als gestern die Dame aus St. Jovite.
Mein Skelettinventar zeigte, daß nur ein Mittelfußknochen und sechs Zehenglieder fehlten. Sie tauchten auch nicht auf, als ich die Erde durchsiebte, aber immerhin fand ich einige Schneide- und einen Eckzahn, die ich in ihre Höhlen zurücksteckte.
Ich folgte meiner gewohnten Prozedur und füllte ein Formular aus, so wie ich es für einen Fall des Leichenbeschauers getan hätte. Ich fing mit dem Becken an. Die Knochen waren die einer Frau. Ihre Schambeinfuge deutete auf ein Alter zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig Jahren hin. Das würde die guten Schwestern glücklich machen.
Beim Ausmessen der Knochen fiel mir eine ungewöhnliche Abflachung an der Vorderseite der Schienbeine knapp unterhalb der Knie auf. Ich sah mir die Mittelfußknochen an. An der Verbindung zwischen Zehen und Fuß zeigte sich Arthritis. Juhuu! Ständig wiederholte Bewegungsmuster hinterlassen am Skelett Spuren. Élisabeth hatte angeblich Jahre im Gebet auf dem Steinboden ihrer Klosterzelle zugebracht. Beim Knien erzeugen der Druck auf die Knie und die Überdehnung der Zehen genau die Befunde, die ich vor mir sah.
Ich erinnerte mich an etwas, das mir aufgefallen war, als ich einen Zahn aus dem Sieb klaubte, und ich nahm den Unterkiefer zur Hand. Die beiden unteren mittleren Schneidezähne zeigten eine kleine, aber erkennbare Furche auf der Bißfläche. Ich untersuchte die oberen. Die gleichen Furchen. Wenn Élisabeth nicht betete oder Briefe schrieb, nähte sie. Ihre Stickereien hingen noch immer im Konvent in Memphrémagog. Ihre Zähne waren gekerbt, weil sie jahrelang Nadel oder Faden zwischen ihnen durchgezogen hatte. Mir gefiel das sehr.
Dann drehte ich den Schädel mit dem Gesicht nach oben und stutzte. Ich stand da und starrte ihn an, als LaManche den Raum betrat.
»Na, ist das unsere Heilige?« fragte er lachend.
Er stellte sich neben mich und betrachtete den Schädel.
»Mon Dieu.«
»Ja, die Untersuchung kommt gut voran.« Ich saß in meinem Büro und telefonierte mit Father Ménard. Der Schädel aus Memphrémagog ruhte in einem Korkring auf meinem Arbeitstisch. »Die Knochen sind erstaunlich gut
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