Knochenbrecher (German Edition)
obwohl der Grappa rein virtuell gewesen war. Vor ein paar Tagen hatte er sich morgens irgendwie lebendiger gefühlt. Vielleicht hatte Monas Programm ja auch unbekannte Nebenwirkungen?
Die Praxis des Facharztes für Allgemeinmedizin befand sich im Erdgeschoss eines erst wenige Jahre alten Friesenhauses, das echten, aber viel kleineren Vorbildern nachempfunden worden war. Auf dem reservierten Parkplatz stand ein silbernes BMW-Kabrio mit geschlossenem Verdeck. In einem der Räume brannte Licht. Greven rieb sich noch einmal die Augen, fuhr sich mit der Hand durch das Resthaar und drückte auf den Klingelknopf.
»Kommen Sie rein, Herr Kommissar«, sagte der Arzt zur Begrüßung und verpasste ihm einen kräftigen, kurzen Händedruck. Der gut zehn Jahre jüngere Mann wirkte auf Greven wie höchstens fünfunddreißig. Er war bauchlos und sah viel besser aus als auf dem Zeitungsfoto. Vor allem sein volles Haar, dem jeder Grauton fehlte. Seine braunen Augen, die denen von Greven nicht eine Sekunde lang auswichen, signalisierten ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das die tiefe, kräftige Stimme noch unterstützte.
»Sie untersuchen den Fall der ermordeten Frau Bogena? Wie kann ausgerechnet ich Ihnen da weiterhelfen?«, fragte Dr. Weygand, nachdem er sich auf seinen Ledersessel geschwungen hatte, während er Greven erst einmal mitten im Raum stehen ließ. »Entschuldigen Sie, nehmen Sie doch bitte Platz.«
»Sie haben sich doch mit der Materie näher befasst?«, begann Greven das Gespräch.
»Welcher Materie?«
»Die Branche der Wunderheiler«, spezifizierte Greven, obwohl er sicher war, dass sein Gegenüber das Gemeinte genau verstanden hatte.
»Ja, das ist in der Tat eines meiner Anliegen«, sagte der Arzt, der einen klassischen weißen Kittel trug. Er sprach langsam, als sei er ein wenig gelangweilt und seine Ambition längst allgemein bekannt. »Ich versuche lediglich zu verhindern, dass ein gutes Drittel der hiesigen Bevölkerung seine Gesundheit ruiniert. Denn wer sich unter die Hände dieser selbsternannten Doktoren begibt, kann sich allenfalls auf einen Placeboeffekt berufen, das wissen Sie so gut wie ich. Geholfen wird ihm auf keinen Fall. Ganz im Gegenteil. Viele der Methoden der Wundermedizin, wobei das Wort Medizin bereits irreführend ist, sind eher geeignet, das Leben zu verkürzen. Allein die diversen Arzneien, die diese Alchemisten zusammenrühren. Ich könnte Ihnen da Analysen zeigen, die ich habe machen lassen. Und dann die Chiropraktiker. Das Interview mit Prof. Hamann dürften Sie wohl gelesen haben. Stand ja in jedem besseren Blatt.«
Greven entschied sich, kurz zu nicken.
»Ein schneller Griff an den Hals, und schon ist die Arteria vertebralis beschädigt.«
»Wer ist beschädigt?«
»Die Wirbelarterie. Fünfzig bis sechzig Menschen erleiden aufgrund derartig verursachter Gefäßeinrisse pro Jahr einen Schlaganfall. Nur weil so ein Amateur an einer Halswirbelsäule herumgefummelt hat. Am schlimmsten finde ich jedoch die unterlassene Hilfeleistung, auf die die meisten Behandlungen hinauslaufen. Da werden Menschen mit ernsthaften Symptomen als geheilt nach Haus geschickt, um irgendwann mit starken Schmerzen doch in der Klinik zu landen, wenn es bereits zu spät ist. Und die Schuld an ihrem nun unvermeidlichen Ableben bekommt natürlich die Apparatemedizin, während die Pfuscher von der Presse zu Alternativmedizinern verklärt werden, auf deren Warnungen vor der etablierten, wissenschaftsgläubigen Medizin der Patient nur hätte hören müssen. So sieht es doch aus. Gegen diese Missstände vorzugehen, halte ich in der Tat für die Aufgabe eines Landarztes. Meinten Sie dies mit Ihrer Frage nach der Vertrautheit mit der Materie?«
»Genau das habe ich gemeint«, antwortete Greven nach dem kleinen Vortrag mit mühsam ausbalancierter Stimme und wollte zur nächsten Frage übergehen. Doch Weygand kam ihm zuvor.
»Sie brauchen nicht um den heißen Brei herumzureden. Ich war joggen. Auf dem Deich.«
»Wie bitte?«
»Das wollten Sie doch wissen? Mein Alibi. Wo ich mich am Samstag während der Tatzeit aufgehalten habe. Ich war joggen. Auf dem Deich.«
Die Überheblichkeit, mit der der Arzt das Gespräch an sich gerissen hatte, und insbesondere der Ton, der signalisierte, für wie überflüssig er dieses Gespräch gleichzeitig hielt, ließen Greven fast explodieren. Während ihn die braunen Augen fixierten, tauchten Tante Heddas blaue Augen vor ihm auf, die etwas ganz anderes ausstrahlten, etwas, das
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