Knochenfinder
»Dann habe ich Ihre Intelligenz tatsächlich überschätzt. Sie waren aus einem ganz anderen Grund an der Stelle und haben mich nur zufällig entdeckt. War es so?«
Natascha überlegte fieberhaft. Wie viel sollte sie verraten? Sie war nicht zufällig an dem Bonuscacheversteck gewesen, sondern weil sie da etwas gespürt hatte, das sie nicht erkennen konnte. Aber dass sie ihn dann letztendlich entdeckt hatte, war tatsächlich ein Zufall gewesen. Dennoch erwiderte sie: »Das war kein Zufall! Ich wusste, dass Sie noch nicht fertig sind. Es war klar, dass noch etwas kommen musste.«
Er nickte wohlwollend. »Woran haben Sie es bemerkt? Daran, dass der Bonuscache leer war?«
Sie nickte; doch diese Form der Antwort erschien ihr selbst zu dürftig. In Wahrheit musste es etwas mit seinem Ego zu tun haben. Er hielt sich für unglaublich intelligent und glaubte nun, in ihr eine würdige Gegnerin gefunden zu haben. Aber sie kam sich im Moment kein bisschen klug vor. Sie musste sich anstrengen und noch einmal genau nachdenken.
Der Bonuscache war das zentrale Thema in dieser Cacheserie. Die anderen vier Geocaches dienten nur dazu, die Koordinaten des Bonus zu ermitteln. Das kam beim Geocaching recht oft vor. Manchmal rundete der Bonus eine Reihe ab, manchmal dienten aber auch die Caches einer Serie nur als Rahmen für den Bonuscache.
Nataschas Atem ging heftig, während sie überlegte. Auch er schien das zu bemerken, denn er grinste sie an und nickte auffordernd. Als wollte er sie dazu anhalten, weiter nachzudenken.
Was hatte er gemacht, als sie auf ihn gestoßen war? Und warum hatte er sie verfolgt und niedergeschlagen? Weil sie ihn bei etwas Wichtigem ertappt hatte. Dabei, wie er einen Baumstumpf aushöhlte.
»Oh, nein«, entfuhr es ihr, und er grinste über das ganze Gesicht. Plötzlich erkannte sie die ganze Wahrheit, begriff sie das Entsetzliche, das hinter dem Rätsel mit den Fingern steckte.
»Ich habe Sie gestört, als Sie den echten Bonus vorbereitet haben. Weil Sie etwas Größeres vorhaben. Die Finger in den Caches waren nur der Anfang, dem etwas viel Bedeutsameres folgen soll. Richtig?« Sie starrte ihn an, obwohl sie sich am liebsten vor ihm verkrochen hätte. Aber er sollte ihre Furcht nicht bemerken. Angst würde sie verletzlich machen, und sie wollte stark bleiben. Für sich selbst und für René.
Er nickte anerkennend. »Gut gemacht, Frau Kommissarin. Ich hatte gehofft, dass Sie das Rätsel lösen können. Allerdings nützt es Ihnen im Moment nichts, wenn ich die Situation richtig überblicke.« Er betrachtete langsam die Höhlenwände und dann die Decke. »Sie kommen hier alleine nicht heraus. Und es kommt auch niemand hier herein, um Ihnen zu helfen.« Er lachte kurz auf. »Es hat nämlich immer noch niemand herausgefunden, wo Sie sind. Es ist ein Jammer, finden Sie nicht auch?«
Natascha schluckte. Ja, er hatte recht. Sie kam hier nicht ohne Hilfe anderer raus – schon gar nicht, wenn sie auch René retten wollte. Aber sie konnte auch nicht darauf vertrauen, dass Winterberg und Lorenz rechtzeitig auf die Lösung kamen. Und selbst wenn sie die Sache mit dem echten und dem falschen Bonus lösten: Woher sollte Winterberg wissen, wo sie sich befanden? Sie wusste ja selbst nicht, wo die Höhle lag, in der sie und René gefangen waren!
Sie musste Zeit gewinnen.
»Warum machen Sie das alles?«, fragte sie und versuchte, sich ein wenig aufzurichten.
Wie erwartet grinste er erneut. »Was glauben Sie, Frau Kommissarin?«
Weil Sie verrückt sind! , hätte sie am liebsten geschrien. Aber sie beherrschte sich. »Sie haben Spaß an Rätseln«, antwortete sie so gelassen wie möglich. »Es gefällt Ihnen, Ihre Mitmenschen vor schwierige Aufgaben zu stellen. Und Sie genießen es, wenn sich die Menschen mit Ihren Rätseln beschäftigen. Denn dann beschäftigen sie sich auch mit Ihnen. Richtig?«
»Ja, da mögen Sie teilweise sogar recht haben. Aber es ist mehr. Es ist nicht allein die Beschäftigung mit dem Rätsel. Dann hätte ich auch Rätselautor werden können oder würde auf Betriebsfesten meine Kollegen mit lustigen Ratespielen unterhalten.«
»Was ist es dann?« Sie überlegte kurz. »Nein, Sie haben recht. Die Menschen mit Rätseln zu unterhalten wäre selbstlos. Aber Sie sind nicht selbstlos. Sie verfolgen ein bestimmtes Ziel. Ist es der Ruhm, den Ihnen ein besonders raffiniertes Ratespiel einbringen könnte?«
Er nickte anerkennend, sagte aber nichts, sondern sah sie noch immer auffordernd an. Er
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