Knochenhaus (German Edition)
unterwegs. Vielleicht ist das ja auch ein Vorteil und macht die Flusswacht auf sie aufmerksam oder andere Segler. Wen auch immer.
Ruth liegt still und lauscht. Durch das Motorengeräusch hört sie Sir Roderick Opernmelodien schmettern. Was für ein Spinner! Langsam schwingt sie die Beine wieder zur Seite und versucht aufzustehen. Eine weitere Welle der Übelkeit schwappt über sie hinweg, doch sie muss sich nicht noch einmal übergeben. Schwer atmend bleibt sie stehen, dann greift sie nach der Tischkante hinter sich und hüpft los, auf die Messer zu.
Sie finden Sir Rodericks Wagen neben der Werft. Er ist nicht sonderlich schwer zu identifizieren: ein brauner Rolls Royce mit dem Kennzeichen SPENS2.
«Mann», brummt Nelson. «Der reist ja auch nicht gerade inkognito.»
«Eigentlich sollte er überhaupt nicht mehr fahren», meint Max. «Edward sagt, er hat Alzheimer.»
«Da täuscht sich Edward.» Nelson erzählt ihm alles.
Max kaut nachdenklich an der Unterlippe. «Trotzdem war Sir Roderick immer ziemlich eigenartig. Als wir noch studiert haben, hat Edward oft erzählt, dass sein Vater seltsame Sachen treibt. Er war ganz besessen von bestimmten römischen Göttern, hat ihnen Opfer gebracht und dergleichen. Einmal ist er in den Römischen Palast in Fishbourne eingedrungen und hat dort Kräuter und Blumen verstreut. Edward hat sich immer große Sorgen um ihn gemacht.»
«Zu Recht», meint Nelson. «Ich lasse ein paar Beamte herschicken, damit sie sich den Wagen mal vorknöpfen. Und ich verständige die Flusswacht.»
«Sie wollen aber zu den North Rivers», sagt Max.
«Ja und?»
«Da ist die Flusswacht nicht mehr zuständig. Es gibt einen Forstaufseher, aber der hat nur einen Wagen und arbeitet um die Zeit auch nicht mehr.»
«Großer Gott!» Nelson hebt den Blick zum Himmel und verflucht den Tag, an dem er zum ersten Mal von Norfolk, dem Fluss und Ruth Galloway gehört hat. Max mustert ihn angelegentlich.
«Na, kommen Sie», sagt er dann. «Wir müssen vor ihnen an der Brücke sein.»
Drei Sprünge, und Ruth ist am Ziel. Sie lehnt sich an die Spüle, fühlt sich krank und schwach. Ihr Kopf schmerzt, vermutlich dort, wo Roderick sie mit seiner «nützlichen» Stablampe niedergeschlagen hat. Mit Sicherheit dieselbe Stelle, wo sie sich bereits den Kopf angeschlagen hat, als er das Plastikbaby als Warnung an sie im Graben platziert hat. Falls sie das alles hier überleben sollte, dann, das schwört sie sich, wird sie ihn umbringen.
Das nächste Problem besteht darin, ohne Hände die Küchenschublade aufzukriegen. Sie sieht sich um, ob nicht vielleicht ein scharfer Gegenstand draußen liegt, doch alles ist enervierend ordentlich aufgeräumt. Dieser verflixte Max mit seinem archäologentypischen Zwangscharakter! Wo steckt Max überhaupt? Wie kommt Roderick an sein Boot? Der eigentlich schreckliche Gedanke, der ihr schon seit Stunden durch den Hinterkopf spukt, drängt plötzlich mit Macht an die Oberfläche. Was, wenn Max nun mit Sir Roderick unter einer Decke steckt? Immerhin waren Max und Edward Spens Studienfreunde. Für Max wäre es sicher ein Leichtes gewesen, Roderick dabei zu helfen, ihr diese grässlichen Gaben in den Weg zu legen. Vielleicht hat er ihn ja überhaupt erst auf die Idee gebracht. Auch er ist Altphilologe, auch er verehrt die römischen Götter. Er wusste alles über Hekate, über Janus und Nemesis und den Rest dieser Horrortruppe. Ist es möglich, dass Max plant, sie zu töten?
Nein, das kann nicht sein. Max ist nur hergekommen, weil es ihn an den Ort zurückzog, wo er mit Elizabeth gelebt hat. Sie darf sich solche Gedanken nicht erlauben. Roderick handelt ganz sicher auf eigene Faust. Verrückt genug ist er ja weiß Gott.
Aber wo zum Teufel steckt dann Max?
Die Schublade verfügt hilfreicherweise über einen weit vorstehenden Griff. Ruth beugt sich vor und nimmt ihn fest zwischen die Zähne. Dann zieht sie daran. Es schmerzt sehr viel mehr als gedacht, doch die Schublade geht auf, und Ruth sieht drei scharfe Messer darin, darunter eines mit einer traumhaften Sägeklinge. Sie dreht sich um und versucht, mit den gefesselten Händen in die Schublade zu greifen.
«O nein, das lassen Sie schön bleiben», sagt eine Stimme hinter ihr.
Als sie wieder am Wagen sind, senkt sich plötzlich Nebel über sie, von einer Sekunde auf die andere. Gerade sahen sie noch den Wagen auf seinem prekären Parkplatz am Flussufer, Reedham hinter und die unbefestigte Straße vor sich, und im nächsten
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