Knochenhaus (German Edition)
ein einzelnes, wenn auch zugegebenermaßen ziemlich großes Haus stand, sollen jetzt fünfundsiebzig seelenlose Schuhkartons hin. Nicht gerade seine Vorstellung von Luxus, soweit er überhaupt eine hat.
Pater Patrick Hennessey wohnt in einer kirchlichen «Einrichtung» im Westen von Sussex. Am Telefon hat er erklärt, es handele sich um eine Art Beschäftigungstherapie für Priester im Ruhestand. «Die Leute kommen für eine Woche, manchmal auch nur für ein paar Tage hierher, um ihre spirituellen Akkus wieder aufzuladen. Ich gehe herum und frage sie, ob sie vielleicht mit einem Priester sprechen möchten, und wenn sie nein sagen, gehe ich weiter zum Nächsten.» Auch kein schlechter Job, denkt Nelson. Es ist ein wunderschöner Maimorgen, die Felder sind üppig und grün, die Bäume schwer von Blüten. Als er ein weiteres rosenumranktes Haus passiert, ertappt sich Nelson bei dem Gedanken, wie viel lieber ihm eine solche Umgebung ist als die in Norfolk. Hier ist alles ganz übersichtlich: Auf einem eingezäunten Feld wächst eine einzelne Eiche, um einen Teich herum stehen mehrere aus Feuerstein erbaute Häuschen, und die sanften Hügel bieten den perfekten Rahmen für malerische kleine Ortschaften. Hier gibt es keinen bedrohlich endlosen Himmel, nichts von der windgepeitschten Einöde, die er an seiner Wahlheimat so wenig schätzt. Andererseits würde es wahrscheinlich ein Vermögen kosten, hier zu wohnen. In den Dörfern wimmelt es von Antiquitätenläden, aber Fastfood-Buden muss man mit der Lupe suchen. Er muss sich durch einen regelrechten Parcours aus BMWs, Porsches und chromglänzenden Landrovern schlängeln. Ziemlich kuschliger Alterssitz, alles, was recht ist.
«Ist es nicht scheußlich hier?», fragt Pater Patrick Hennessey gutgelaunt, als er über den makellos grünen Rasen auf Nelson zukommt und ihm herzlich die Hand schüttelt.
Der markige Händedruck überrascht Nelson kein bisschen. Solchen Priestern ist er schon öfter begegnet: stämmige, rotwangige Iren, die eigentlich eher wie ehemalige Preisboxer aussehen und nicht wie Geistliche. Hennessey ist nicht mehr der Jüngste; Nelson schätzt ihn auf weit über siebzig, doch obwohl er am Stock geht, strahlt er eine unübersehbare körperliche Präsenz aus. Seine Schultern sind mindestens so breit wie die von Nelson, er hat einen weißen Bürstenschnitt und eine Nase, die sichtlich mehrfach gebrochen wurde.
«Wieso denn?», fragt Nelson, während sie auf eine schattige Bank mit Blick auf den Rosengarten zugehen. «Sieht doch eigentlich alles ganz hübsch aus.»
«Hübsch», wiederholt Hennessey düster. «Ja, da haben Sie wohl recht. Mich langweilt das alles hier zu Tode. Die Leute reden ständig davon, wie sich Gottes Hand in der Natur offenbart, aber wenn Sie mich fragen: Kennt man einen Baum, kennt man sie alle. Wenn ich dagegen ein richtig gelungenes Bauwerk sehe und mir vorstelle, dass Gott uns Menschen die Fähigkeit verliehen hat, so etwas zu errichten, dann ist das doch der eigentliche Grund zum Feiern. Kennen Sie die Gurke in London? Reine Poesie.»
«Ich bin ja selbst in der Großstadt aufgewachsen», erwidert Nelson zögernd, «aber bei Hochhäusern denke ich trotzdem nicht an Gott.»
Hennessey wirft ihm einen scharfen Seitenblick zu. Seine Augen sind von einem auffallenden Hellblau und strahlen in dem wettergegerbten Gesicht. Es sind kluge, wachsame Augen. Und ebenso wenig sanft wie sein Händedruck.
Jetzt lässt er sich schwerfällig auf der Bank nieder und streckt steif ein Bein von sich. «Also dann, Detective Chief Inspector Nelson. Sie wollten mit mir über das KHH reden.»
Das Kinderheim zum Heiligsten Herzen, entschlüsselt Nelson im Stillen. Er kann Abkürzungen nicht leiden. Unnötig zu sagen, dass Whitcliffe sie liebt.
«Ja», sagt er barsch. «Wie Sie vermutlich wissen, wird das Grundstück zurzeit neu bebaut. Es soll dort eine Reihe von Luxusapartments entstehen.»
«Ach herrje.»
«Und im Rahmen der vorbereitenden Bauarbeiten wurde etwas gefunden. Eine Leiche. Besser gesagt ein Skelett, das unter der Schwelle der Eingangstür beigesetzt wurde. Allem Anschein nach stammt es von einem Kind.»
Nelson hält inne. Jeder Polizist weiß schließlich, dass Schweigen der beste Weg ist, an Informationen zu kommen.
Doch Hennessey kennt den Trick anscheinend auch. Er fixiert Nelson mit seinem kühlen hellblauen Blick. Ein paar Sekunden lang sagt keiner von beiden etwas. Ein älteres Paar spaziert gemächlich an ihnen vorbei und
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