Knochenhaus (German Edition)
Ich bekomme dieses Baby, und du bist der Vater. Das ist alles.»
«Herzlichen Dank auch.»
«Du solltest dich eigentlich freuen, dass ich nicht alle möglichen Ansprüche an dich stelle.»
«Und du solltest dich freuen, dass ich nicht gleich die Beine in die Hand nehme.»
Dann müssen sie beide lachen, weil sie merken, wie absurd diese Diskussion ist.
«Was ist mit deinen Eltern?», fragt Nelson. «Unterstützen sie dich?» Er klingt, als wäre er stolz darauf, diese Frage so schön neutral formuliert zu haben.
«Nicht direkt», antwortet Ruth. «Sie sind Wiedererweckte Christen und glauben, ich werde in der Hölle schmoren.»
«Na prima. Aber vielleicht überlegen sie es sich ja anders, wenn das Baby erst mal da ist.»
«Kann schon sein.»
«Hast du Geschwister?»
Nelson hat recht, denkt Ruth, es ist tatsächlich seltsam, dass sie ein gemeinsames Kind erwarten und trotzdem kaum etwas voneinander wissen. Sie hat ja umgekehrt auch keine Ahnung, ob Nelson Geschwister hat.
«Einen Bruder. Er ist ganz in Ordnung, aber wir stehen uns nicht besonders nahe. Er lebt in London.»
«Hat er Kinder?»
«Ja. Zwei.»
Toby wird zwei Cousins haben. Das ist ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen.
«Und du willst weiter arbeiten?», fragt Nelson.
«Natürlich. Ich muss das Kind ja irgendwie ernähren, nicht?»
«Ich sagte doch schon, ich will dir helfen.»
«Ich weiß, aber ganz realistisch betrachtet, kannst du nicht allzu viel machen, wenn du Michelle nichts davon erzählst. Aber das ist schon in Ordnung. Ich brauche keine Hilfe. Du kannst ihm ja dann ein Fahrrad kaufen oder so was.»
«Seinen ersten Fußball.»
«Du wirst ihm aber hoffentlich nicht einreden, dass er sich für irgendeine obskure Fußballmannschaft aus dem Norden begeistert?»
«Blackpool. Klar doch.»
«Und was ist, wenn ich möchte, dass er für …» Ruth denkt eingehend nach, um die schlimmstmögliche Alternative zu finden. «… für Arsenal ist?»
«Dann beantrage ich das Sorgerecht.» Nach kurzem Schweigen fragt Nelson: «Was wirst du ihm denn von mir erzählen? Ich will nicht, dass er aufwächst und nicht weiß, wer sein Vater ist.»
«Das weiß ich noch nicht», sagte Ruth. «Damit befasse ich mich, wenn es so weit ist.» Doch bei dieser Frage kommt sie sich plötzlich vor, als müsste sie auf einer wurmstichigen Planke über die Niagarafälle balancieren. Wenn Michelle nichts davon erfahren darf, wie soll sie ihrem Kind dann überhaupt erzählen, dass Nelson sein Vater ist?
Sie haben die Straße zum Salzmoor erreicht. Die Flut ist auf dem Rückzug und hinterlässt funkelnde blaue Tümpel, durchsetzt von Inseln aus hohem Gras. Ruth lässt das Fenster herunter und atmet tief den salzigen Geruch des Meeres ein.
Nelson sieht sie von der Seite an. «Du liebst diesen Ort, nicht?»
«Ja.»
«Dann hat es wohl wenig Sinn, wenn ich sage, dass es hier ein bisschen einsam ist, um ein Kind großzuziehen?»
«Genau.»
Nelson hält vor Ruths Häuschen. «Willst du noch kurz reinkommen?», fragt sie ihn.
Er macht ein betretenes Gesicht. «Ich muss langsam zurück. Ich habe Michelle versprochen, mit ihr ins Gartencenter zu fahren.»
«Na gut.»
Ruth steigt aus und sucht in der Handtasche nach ihrem Schlüssel. Nelson sieht ihr vom Fahrersitz aus zu. Als er sie so vor der Tür stehen sieht, in ihrem zerknitterten Oberteil, ein Pflaster über dem linken Auge, schnürt es ihm aus irgendeinem Grund die Kehle zu.
«Ruth!», ruft er.
Sie dreht sich zu ihm um.
«Pass auf dich auf, ja?»
Sie winkt ihm lächelnd zu, dann hat sie ihren Schlüssel gefunden und verschwindet im Haus.
24. Juni
Fors Fortuna
Es ist sehr heiß. Viel zu heiß. Gestern Nacht habe ich mich nur mit einem Laken zugedeckt und war am Morgen dennoch schweißgebadet. Sie hat sich mir wieder genähert, und ich war schwach. Vielleicht ist meine Schwäche ja der Grund, dass ein Fluch auf diesem Haus liegt, dass nichts mehr gedeiht außer Staub und Asche. Am Morgen habe ich erneut geopfert, und die Eingeweide waren faulig und verdorben, sie stanken. Ich vergrub sie hinter dem Gewächshaus, dort, wo das Gras hoch steht. Die Zeit ist nahe. Wir können nicht entkommen.
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20
Edward Spens wohnt in der Newmarket Road, einer belebten Durchgangsstraße am Rand von Norwich. Hier sind die Reichen daheim. Die Häuser sind riesig, weit von der Straße zurückgesetzt und von Bäumen umgeben. Von so vielen Bäumen, dass die Häuser dahinter fast verschwinden und erst
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