Knochenhaus (German Edition)
anzupeilen, doch Pater Patrick Hennessey steuert zielsicher wie ein Bluthund auf der Fährte die Einkaufspassage und die dortige Starbucks-Filiale an, die Ruth eigentlich auf den Tod nicht ausstehen kann. «Hier gibt’s tollen Kaffee», erklärt er und reibt sich dabei die Hände. Die Klimaanlage ist so hoch gedreht, dass Ruth fröstelt.
Sie registriert die seltsamen Blicke, als sie das Café betreten: eine dicke Frau mit erdverschmierter Hose und einem Pflaster über dem linken Auge und ein schwarz gewandeter Geistlicher mit rotem Gesicht. Ruth bestellt ein Mineralwasser, doch Hennessey stürzt sich mit Wonne in den ganzen «Fettarmer Latte mit Extra-Espresso»-Wahnsinn.
«Da, wo ich wohne, kriegt man einfach keinen ordentlichen Kaffee», erklärt er.
«Wo wohnen Sie denn?»
«In einem gottverlassenen Winkel von Sussex, draußen auf dem Land.» So, wie er «gottverlassen» sagt, klingt es, als meine er das ganz wörtlich.
«Nelson … DCI Nelson meinte, es sei sehr schön dort.»
«Oh, es ist bestimmt schön, wenn man was für Bäume übrighat. Aber ich bin nun mal ein Stadtkind, in Dublin geboren und aufgewachsen. Und ich habe immer in Städten gelebt: Rom, London, Norwich.»
Das klingt ein bisschen wie die Aufschrift auf Del Boys Laster in der Serie Only Fools and Horses : New York, Paris, Peckham. Ruth verkneift sich ein Grinsen. «Norwich ist ja nun nicht gerade eine Metropole.»
«Aber sicher doch, und eine wunderbare Stadt noch dazu. Ich vermisse sie. Ich vermisse meine Arbeit, die Gemeinde, einfach alles.»
«Sie haben das Kinderheim geleitet, nicht wahr?»
«Ja, ich habe es gegründet und auch geleitet. Vor Jahren war ich einmal in einem Waisenhaus im Londoner East End, wo die Kinder fast wie in einer Familie zusammenlebten. Etwas Ähnliches habe ich auch hier versucht. Ich habe alle Mitarbeiter persönlich ausgewählt und mich für junge, gläubige Menschen entschieden, die noch Ideale hatten.»
«Ich habe kürzlich einen Ihrer einstigen … Schützlinge kennengelernt. Er denkt anscheinend sehr gern an seine Zeit im Heim zurück.»
Hennessey macht ein interessiertes Gesicht. «Wen denn?»
«Er hieß Davies, wenn mich nicht alles täuscht.»
«Ach ja, Kevin Davies. Ein netter Junge. Soviel ich weiß, ist er Bestatter geworden. Er hatte schon immer etwas Ernsthaftes an sich.»
Ruth denkt an Davies’ sorgenvolles, zerknautschtes Gesicht zurück. Sie kann sich gar nicht vorstellen, wie er als Kind gewesen ist. Bestimmt sah er immer schon aus wie ein Vierzigjähriger.
Hennessey mustert sie. Er hat auffallend blaue Augen, und sein wettergegerbtes Gesicht ist von hellen Lachfältchen durchzogen.
«Das ist sicher keine einfache Aufgabe», sagt er, «Vergangenes aufzudecken.»
Die Formulierung überrascht Ruth. Die meisten Menschen glauben, Archäologie bestehe im Wesentlichen darin, Knochen auszubuddeln, doch in Wahrheit deckt man tatsächlich Vergangenes auf. Sie erwidert den Blick des Priesters mit neuer Hochachtung.
«Es ist sogar sehr schwierig.» Sie wählt ihre Worte mit Bedacht. «Vor allem in Fällen wie diesem, wenn man es mit der jüngeren Vergangenheit zu tun hat und es auch noch um ein Kind geht.» Sie bricht ab, weil sie fürchtet, schon zu viel gesagt zu haben.
Doch Hennessey nickt bereits. «Als Priester stößt man auch oft auf Dinge, die eigentlich besser verborgen geblieben wären. Doch die Wahrheit hat die Gewohnheit, immer irgendwann an die Oberfläche zu kommen.»
So wie die Knochen unter der Türschwelle, denkt Ruth. Wären sie für immer verborgen geblieben, wenn Spens nicht so versessen darauf gewesen wäre, das Grundstück neu zu bebauen, wenn Ted und Trace nicht genau an dieser Stelle gegraben hätten? Oder wäre das längst vergessene Verbrechen trotzdem ans Tageslicht gekommen und hätte nach Sühne geschrien?
«Manchmal ist es schwer zu entscheiden, was wahr ist und was nicht», sagt sie.
«Da wäre Pontius Pilatus ganz Ihrer Meinung. ‹Die Wahrheit›, hat er gefragt. ‹Was ist denn das?› Und Pilatus war durchaus ein kluger Mann. Ein Feigling zwar, aber dennoch klug.»
Ruth findet es etwas irritierend, dass Hennessey über Pontius Pilatus spricht, als könnte er jeden Moment das Café betreten. «DCI Nelson wird die Wahrheit schon finden», sagt sie mit mehr Zuversicht in der Stimme, als sie empfindet. «Falls das überhaupt möglich ist.»
«Ja, DCI Nelson. Er ist ein bemerkenswerter Mann, scheint mir. Sehr moralisch.»
Zu ihrem eigenen Ärger spürt
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