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Knochenkälte

Titel: Knochenkälte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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ist hier doch das Ende der Welt. Es gibt nichts zu tun und keinen Ort, es zu tun.«
    Ich ziehe die Schultern gegen den Wind hoch. »Wem sagst du das? In Toronto hatte ich immer genug zu tun und genug Orte, wohin ich gehen konnte.«
    »Ist deine Mutter noch in Toronto?«
    Die Frage, so aus dem Nichts heraus, trifft mich wie ein unerwarteter Schlag. Ich meide Ashs Blick in der Hoffnung, dass der Schmerz gleich vergeht.
    »Hallo?«, sagt sie. »Ich rede mit dir. Was ist eigentlich los mit deiner Mutter? Scheidung oder was? Hat dein Dad das Sorgerecht bekommen?«
    »Äh... sie ist nicht mehr da«, murmele ich.
    »Wohin ist sie denn?«
    »Du weißt schon.«
    Wieso drängt sie mich so? Ich weiche ein paar Schritte zurück.
    »Nein, ich weiß nicht. Du erzählst ja nie was. Sie ist also weg - wohin? Nach Disneyland?«
    »Sie ist nicht mehr da... nicht mehr da wie in tot«, keife ich. »Zufrieden?«
    Das lässt uns beide verstummen. Ich spüre ihren Blick auf mir, starre aber nur in die eisige Leere hinaus.
    »Wow«, sagt Ash schließlich. »Das ist... Scheiße, das tut mir leid.«
    »Ja.«
    Wenn die Leute fragen, wo meine Mutter ist, sag ich meistens: in Toronto. Ich lasse sie in dem Glauben, meine Eltern wären geschieden, getrennt lebend oder was auch immer. Ist
mir egal. Technisch gesehen ist es nicht mal gelogen. Sie ist in Toronto. Zwei Meter tief unter der Erde.
    »Willst du darüber reden?«
    »Nein!«
    »Gut«, sagt sie und lässt den angehaltenen Atem entweichen. »Ich meine, ich bin in Gefühlssachen sowieso nicht so gut.«
    »Ich auch nicht.«
    Ein langes, angespanntes Schweigen folgt meinen Worten. Dann räuspert sich Ash. »Wer schneller an der Boje ist?«
    Die grellorange Boje, die im Eis festgefroren ist, ist das Einzige, was die weiße Weite aufbricht. Sie markiert die Stelle knapp hundert Meter vom Ufer entfernt, wo das seichte Wasser in tiefe See übergeht.
    »Selbe Regeln wie beim letzten Mal?«, sagt Ash. »Wenn du gewinnst, darfst du mal grapschen. Was meinst du? Auf drei?«
    »Weiß nicht.« Ich ramme meine Schuhe ins Eis. Ich will ihr eins auswischen. »Drei!«, brülle ich.
    Damit renne ich los und bin gleich in Führung. Der hergewehte Schnee bietet mir genug Grip, dass ich nicht auf die Fresse falle. Ich kann Ash direkt hinter mir hören. Fühlt sich komisch an, auf diese weite leere Ebene hinauszulaufen, in der die Boje der einzige Farbklecks ist. Unter der Eisschicht entfernt sich der Seegrund mit jedem Schritt, den ich vom Ufer weg mache, immer weiter von mir. Zwei Meter Tiefe. Vier. Acht.
    Ich bin immer noch vorn, aber Ash ist mir auf den Fersen. So nah, dass sie mich zu Fall bringen könnte, wenn sie wollte. Ich stürme vorwärts, jeder Schritt ist ein Sieg gegen die Gefahr
auszurutschen. Auf den letzten Metern beuge ich mich nach vorn und hechte auf die Boje zu. Ich umklammere den orangefarbenen Pfahl, um mich auf den Beinen zu halten. Ash schlittert an mir vorbei und kommt erst ein paar Meter weiter zum Stehen.
    »Ich hab gewonnen«, keuche ich, dann rutschen meine Beine unter mir weg, und ich knalle, immer noch an die Boje gekrallt, auf den Hintern.
    Ash rutscht auf Knien auf mich zu und kracht gegen mich. Ich lege mich auf den Rücken und schaue zur grauen Wolkendecke hoch. Ashs Gesicht verdeckt mir die Sicht, als sie auf mich heruntergrinst. Dann setzt sie sich rittlings auf meinen Bauch.
    »Hast du mich gewinnen lassen?«, frage ich.
    »Ich dachte, du brauchst das.«
    »Krieg ich die Siegerprämie trotzdem?«
    »Was meinst du denn?«
    Sie beugt sich zu mir runter und küsst mich.
    Mann, sie ist so warm. Immer so warm. Als würde ein Dauerfieber ihr Blut aufheizen. Ich erwidere den Kuss. Ihre Nase schmiegt sich an meine.
    Dann löst sich Ash wieder von mir. Ihre Hände liegen flach auf meinem Brustkorb und pinnen mich auf den Boden. Kein Zweifel, wer hier das Sagen hat.
    Sie muss etwas in meinen Augen gesehen haben, denn sie fragt: »Was ist? Stimmt was nicht?«
    »Nein, alles okay. Es ist nur... manchmal würde ich auch gern mal der Mann sein.«
    Sie lacht. »Meinst du, du hast das drauf?«

    Ich versuche, mit den Schultern zu zucken, aber sie nagelt mich immer noch am Boden fest. »Das werden wir nie erfahren, außer du lässt es mich mal versuchen.«
    Sie nimmt die Hände hoch und tut so, als würde sie sich ergeben. »Okay, du bist der Mann.«
    Also drehe ich mich zur Seite und nehme sie dabei mit. Eine Sekunde später haben wir die Plätze getauscht. Ich beuge mich zu ihr runter.

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