Knochenkälte
umklammert die Flinte mit beiden Händen. »Wovon redest du da?« Er hat Mühe, sich über das Chaos der Echos hinweg Gehör zu verschaffen. »Ich seh sie doch klar und deutlich!«
Ich warte darauf, dass das Ding sich auf mich stürzt. Da macht es auf einmal »klick« in meinem Kopf. Howie hat recht, hier stimmt wirklich was nicht.
Das Maul des Monsters ist weit aufgerissen, aber voller Schatten. Da sind keine Zähne. Und die Augen... leere Augenhöhlen starren mich an. Die ganze Bestie sieht... hohl aus.
»Augenblick!« Howie steckt eine Hand in seine Tasche und holt einen Füller heraus. Ungläubig sehen wir zu, wie er mit dem Arm ausholt und das Ding quer durch die Höhle schleudert.
Er hat gut gezielt. Der Füller trifft die kauernde Gestalt, prallt davon ab und fällt zu Boden. Eine kleine Staublawine ergießt sich darüber.
Ash lässt den Lauf ihres Gewehrs sinken. »Was ist das?«
»Ich glaube, nur eine leere Hülle«, sagt Howie.
»Eine Hülle?«, wiederholt Pike.
»Ja. Vertrau mir. Lass uns mal nachsehen.«
Pike nickt. »Aber du bleibst hinter mir.«
Er führt uns quer durch die Höhle. Je näher wir kommen, desto hohler sieht die Bestie aus. Leer.
Als er nah genug dran ist, stößt Pike sie mit dem Fuß an. Sein Stiefel macht ein dumpfes Geräusch, als hätte er gegen ein Ölfass getreten. Noch mehr pulvriger Staub löst sich. Pike schiebt den Lauf der Schrotflinte in eine der leeren Augenhöhlen.
Howie greift an seinem Bruder vorbei, um die Hülle selber zu berühren. Er wirkt verblüfft. »Manche Tiere schälen sich aus ihrer alten Haut, wenn sie älter werden oder einfach rauswachsen aus dem Ding.«
Pike tritt noch mal dagegen. »Das ist keine Haut. Mehr ein Panzer oder so. Ich glaube, die Schrotkugeln würden dem Ding nichts anhaben können.«
Haut, Hülle, Panzer - ist mir egal, was das ist. Ich hab schon einen halben Herzinfarkt, weil ich so nah dran bin. Die Augenhöhlen mögen leer sein, aber die Schatten darin sehen trotzdem so aus, als würden sie starren.
»Jetzt aber raus hier«, sagt Ash.
»Ja.« Pike legt Howie eine Hand auf die Schulter und führt uns wieder zum Höhleneingang zurück.
Plötzlich verfängt sich mein Fuß in etwas, was unter dem Nebel verborgen ist, und mir bleibt schier das Herz stehen, weil ich nicht weiß, was es ist. Als ich den Fuß anhebe, sehe ich es - nur ein Stück Stoff. Ich halte es in das blaue Licht - es ist ein zerfetztes Hosenbein, starr vor eingetrocknetem Schlamm. Der Stoff ist dünn, ein Stück Gummi vom Hosenbund hängt auch noch dran.
»Krankenhaus«, sagt Howie.
»Was?«
»Das sind die Hosen, die man da kriegt.«
Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen - das Teil hier hat Ray Dyson angehabt, als er aus dem Krankenhaus abgehauen ist.
»Ray«, flüstert Howie.
Das eingetrocknete Zeug auf dem Hosenbein ist gar kein Schlamm.
»Blut«, sagt Howie.
Ich lasse die Hose in den Nebel fallen. Was mag sonst noch alles in den Schwaden da am Boden verborgen sein?
»Raus hier!«, rufe ich.
Wir rennen los.
Der Weg bergauf kommt mir länger vor als der Weg bergab, der Tunnel scheint mir endlos. Sind wir irgendwo falsch abgebogen? Was, wenn wir uns hier unten verirren? War eine ganz, ganz blöde Idee, hierherzukommen.
Ashs Taschenlampenlicht flackert wie wild über die Eiswände. Nichts da, was einem bekannt vorkommen würde. Außer dem Tappen unserer Füße und den Echos, die uns an die Oberfläche treiben, ist nichts zu hören.
Schließlich rieche ich frische Luft. Ich muss mich beherrschen, um Howie nicht zur Seite zu schubsen und vor ihm rauszustürmen. Taumelnd stürze ich in die Nacht hinaus. Ich bin so erleichtert, dass ich kurzfristig vergesse, dass die Bestie nicht da unten in der Höhle ist. Sondern hier draußen irgendwo.
»Weiter, Bewegung, Bewegung! Hier sind wir wie auf dem Präsentierteller.« Pike stürmt über die Lichtung.
Wir halten auf den Einschnitt zwischen den Felsen zu, der uns aus dem Versteck der Bestie hinausführt. Mein Herz macht einen Sprung, als das Auto in Sicht kommt. Hätte nie gedacht, dass mich der Anblick dieser alten Schrottkiste mal so glücklich machen würde.
Hastig klettern wir rein. Pike lässt den Motor an, die Reifen drehen im Schnee durch. Wir geben Gas und kommen trotzdem nicht vom Fleck. Wie in den Albträumen, wo man rennt und rennt und trotzdem nirgendwo hinkommt. Es gibt kein Entrinnen.
Die Bestie ist nämlich nicht nur irgendwo da draußen. Sie steckt auch in meinem Kopf. Und ich
Weitere Kostenlose Bücher