Knochenpfade
männlichen Torso auf dem Edelstahltisch an und dachte unwillkürlich, dass er aussah wie etwas vom Fleischer.
“Der Körper ist gekühlt worden, möglicherweise eingefroren”, sagte Dr. Tomich, der Gerichtsmediziner. Er sprach in ein Funkmikrofon, das an seinem Kittel befestigt war. Die Kommentare waren als Gedächtnisstütze für sein schriftliches Protokoll gedacht und weniger an seine Zuschauer gerichtet. “Die Schnitte sind sehr präzise. Effizient, aber keine chirurgische Arbeit.”
“Was heißt das genau?”, fragte Sheriff Clayton aus seiner Ecke. An diesem Morgen wanderte er ungeduldig an der Wand des Autopsieraums hin und her. “Ich möchte nicht im Weg stehen”, hatte er angekündigt. Aber er wollte auch nichts verpassen.
Rein bürokratisch war der Inhalt des Fischkühlers Sache des County-Sheriffs. Wenn Teile eines Körpers gefunden wurden, dann lag die rechtliche Zuständigkeit bei dem County, in dem sich das Herz befand – in diesem Fall der ganze Torso. Maggie hatte bereits miterlebt, wie sich in solchen Fällen verschiedene Polizeistellen um die Zuständigkeit rissen. Dieser Sheriff hier hatte alles Mögliche getan, um nicht damit beauftragt zu werden. Zu seiner Entschuldigung musste Maggie einräumen, dass er mit den Schutzmaßnahmen vor dem Hurrikan alle Hände voll zu tun hatte. Es musste sichergestellt werden, dass alle Bewohner der Gemeinde entsprechende Vorbereitungen trafen. Viele wurden evakuiert. Das war im Moment wohl dringender als ein Leiche, die nach ihrem Verschwinden schon wer weiß wie lange tiefgefroren gewesen war.
“Das heißt, die Person, die das getan hat, weiß, wie man eine Leiche zerlegt. Doch es scheint sich nicht um einen Arzt oder Chirurgen zu handeln.”
“Woher wollen Sie das so genau wissen?”
Dr. Tomich richtete sich von seiner Untersuchung auf. Er erinnerte Maggie an Spencer Tracy: silbergraues Haar, hinter schwarzen viereckigen Brillengläsern leuchteten blaue Augen, die sehr charmant blinzeln, aber auch stechende Blicke abschießen konnten. Der osteuropäische Akzent, vielleicht polnisch, störte diesen Eindruck allerdings ein bisschen. Als er sich erneut zu Clayton umwandte, erinnerte er Maggie eher an ihren Geschichtslehrer aus der Highschool. Der hatte seine Schüler ebenfalls mit nichts als einem stechenden Blick in ihre Grenzen verweisen können.
“Ich meine nur …” Der Sheriff ließ sich allerdings nicht so schnell abschrecken. “Wo lernt man denn so etwas, wenn nicht im Medizinstudium?”
“Vielleicht durch Übung?”, warf Maggie ein, während die beiden Männer sich mit hochgezogenen Augenbrauen ansahen. “Serienkiller perfektionieren ihr Können oft einfach durch Versuch und Irrtum.”
“Sie nehmen also an, dass die besagte Person so etwas schon früher getan hat?”, folgerte der Professor.
“Können Sie mit Sicherheit behaupten, dass das nicht der Fall ist?”
Diesmal sah er mehr verwirrt als verärgert aus. “Lassen Sie mich das anders ausdrücken. Sie nehmen an, hier handelt es sich um ein Verbrechen. Bisher kenne ich aber noch nicht die Todesursache. Und ich habe keinerlei Hinweise auf einen Mord.”
“Kommen Sie schon, Dr. Tomich”, meldete sich Clayton. “Warum landen denn die Teile eines Körpers in einem Fischkühler mitten im Golf, wenn kein Verbrechen im Spiel ist?”
Maggie interessierte die Antwort, aber da unterbrach sich der Sheriff. “Was ist das für ein Geruch?” Er schnüffelte in der Luft, näherte sich aber dem Autopsietisch keinen Zentimeter.
“Menthol?”
“Wick Vaporub”, sagte Maggie.
“Das ist seltsam”, bemerkte der Sheriff, immer noch schnüffelnd.
“Nicht unbedingt”, entgegnete Maggie. “Nicht, wenn jemand beabsichtigt, den Verwesungsgeruch zu überdecken.”
“Trotzdem heißt das nicht, dass hier ein Mord vorliegt”, bestand der Arzt auf seiner Meinung.
Ein junger Mann in blauem OP-Kittel kam durch die Seitentür herein und schob einen Edelstahlwagen vor sich her. Zuerst dachte Maggie, er wäre ebenfalls Arzt oder Pathologe, bis er sagte: “Hier ist der restliche Inhalt, Sir.”
“Vielen Dank, Matthew.”
“Die Röntgenaufnahmen sind auf der Ablage hier unten. Ich bin nebenan, falls Sie mich brauchen.”
“Nebenan? Kochen Sie meine Knochen ab?”
“Ja, Sir.”
Dr. Tomich warf Maggie und Sheriff Clayton einen amüsierten Blick zu, als beide ihn mit großen Augen ansehen.
“Jemand hat ein paar vergrabene Knochen gefunden. Ich bezweifle zwar, dass sie von einem
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