KNOI (German Edition)
ich weiß nicht, ob ich es schaffe, wenn ich weiß, dass dort etwas auf mich wartet, dass etwas auf mich wartet, daran habe ich keine Zweifel, vielleicht dein Vater, vielleicht leben sie dort, die Toten, in ihren Zelten, im Wald, man darf es niemandem erzählen, niemandem in Rohrbach erzählen, ausräuchern, lynchen würden sie selbst die Toten, wenn sie in ihren Wäldern herumgeistern –
Marie stand im Garten und schnitt die Rosen. Sie hatte bereits gewässert, und die feuchte Wiese schimmerte im Vollmondlicht. Jakob hatte Marie noch nie Marie genannt. Seine Marie war auf der Insel geblieben. Jennifers Mutter war eine namenlose Marie, mit der er ohnedies nie gesprochen hatte. Für sie war die Geschichte mit Jakob ein weiterer Beweis dafür, wie ungerecht die Welt war und dass man sich eben mit dem Schicksal arrangieren musste. Einstecken können, wo man nie austeilen durfte, und als Jakob aus dem Auto stieg, da wusste sie sofort, dass etwas passiert war. Dieses Mal war sie nicht Beifahrerin gewesen. Man hatte ihren Körper aus dem Blechgehäuse gelöffelt, und jetzt lag er völlig zerquetscht im Kühlhaus. Marie ließ die Rosenblüten fallen und ging auf Jakob zu.
- Wo?
Er blieb vor dem Zaun stehen. Die Grillen zirpten wie wild.
- Das weiß ich nicht.
- Jeder Unfall braucht einen Ort.
- Ich weiß nicht, ob es ein Unfall war.
- Mord.
- Ich weiß nicht, was passiert ist.
- Aber es ist etwas passiert.
- Ja, passiert ist etwas. Das schon.
- Ist sie tot?
- Ich weiß es nicht.
- Gott sei Dank. Eine Ungewissheit.
Sie bat ihn herein, obwohl es warm genug gewesen wäre, auf der Terrasse zu sitzen. Aber das Zirpen der Grillen verunmöglichte jedes Gespräch.
- Cognac?
Jakob nickte.
- Erzählen Sie mir bitte alles, was Sie wissen.
Jakob zeigte ihr Jennifers Nachrichten. Erleichtert atmete die Mutter auf.
- Sie ist also nur weg und nicht tot.
- Wenn jemand immer weg ist, dann ist da kein Unterschied.
- Doch, glauben Sie mir, da ist einer.
- Es könnte auch jemand anders geschrieben haben.
Sie lächelte und holte einen Teller trockener Butterkekse. Ihr Blick suchte den Spannteppich nach Brösel ab.
- Dann machen Sie sich eben Sorgen, und ich mache mir keine.
Sie klopfte ihm auf die Schulter und schenkte ihm Cognac ein. Er schmeckte seltsam abgestanden, aber ein Rohrbach ohne Cognac wäre an diesem Abend unmöglich gewesen.
- Vielleicht hat sie Selbstmord begangen, und das war ihr Abschiedsbrief.
- Die Kerblers schreiben keine Abschiedsbriefe, sagte Marie, und Jakob konnte die Verunsicherung sehen, die ihre Pupillen streifte. Sie wollte die Akte Jennifer nicht übernehmen. Sie konnte es nicht.
- Alle in meiner Umgebung bringen sich irgendwann um, sagte sie, und der Spannteppich sog ihre Worte auf, und sie verschwanden im Einbaukasten hinter der Kristallvase, wo man mit dem Putztuch nicht hinkam.
- Es ist Ihre Tochter. Sie müssen wissen, ob Sie suchen wollen oder nicht.
- Sie kommen alle zurück. So oder so.
Denn nach Rohrbach war noch jeder zurückgekehrt. Spätestens, um hier begraben zu werden. Diese Gewissheit gab dem Rohrbacher jene innere Ruhe, um die er von all den Nicht-Rohrbachern beneidet wurde.
- Jetzt sind alle weg.
Marie seufzte, als wäre die Geschichte endgültig so ausgegangen, wie sie es immer vorausgesagt hatte. Ab heute war sie allein in der Rohrbacher Nacht.
- Und was machen Sie jetzt?
Marie war erstaunt, dass Jakob diese Frage stellte und nicht sie selbst.
- Nichts. Und Sie?
- Vermutlich vergessen lernen, sagte Jakob, der nur wusste, dass er genauso schnell wieder zurückrasen wollte, durch die Stadt hindurch, an der anderen Seite wieder hinaus und dann endlos lange um den Erdball herum, ohne einmal zu bremsen.
- Wollen Sie Ihre Sachen?
Sie schüttelte den Kopf und stand auf.
- Ich könnte einen Spaziergang vertragen.
Jakob nickte. Wieder auf Schritttempo herunterfahren. Das Fernlicht ausschalten. Und die Überholspur verlassen. Marie ging voraus. Jakob hielt nur mühselig Schritt.
- Sind Sie oft im Wald?
- Ich will Ihnen etwas zeigen.
- Was?
- Das müssen Sie selbst sehen.
Jakob konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal nachts in einen Wald gegangen war. Die erste Nacht mit Rita. Es war November gewesen, und ihr kalter Atem war in kurzatmigen Blasen aus dem Dickicht aufgestiegen. In der Stadt gingen nachts viele in den Wald. Der Rohrbacher mied ihn. Vor allem bei Nacht. Denn der Rohrbacher hatte den gleichen Respekt vor dem Wald wie der Küstenmensch
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