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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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vergessen hatte. Es war die Wut, die ihn befiel, der kalte Zorn eines Soldaten, der in mehr als einer Schlacht mit seinem Blut für die Krone eingestanden war, die Krone, die ihm jetzt in den Rücken fiel. Erinnerte sich jemand an Fort Necessity? Wie er mit einem Haufen Elender das königliche Territorium verteidigt hatte, gegen eine Übermacht aus aufgeputzten Franzmännern und einer Horde blutrünstiger und halbnackter Wilder? Wie er seine Männer vor der Vernichtung gerettet und eine Kapitulationsurkunde unterzeichnet hatte, die ihn als gemeinen Mörder titulierte und ihm keinen Ruhm, sondern nichts als Schmach und Schande eingetragen hatte? Und Monongahela? Erinnerte sich jemand an diesen General der königlichen Armee, der gemeint hatte, er könne in den Wäldern Pennsylvaniens die gleiche Taktik anwenden wie zu Hause bei seinen Coldstream Guards? Hatte er nicht versucht, den aufgeblasenen General auf das unterschiedliche Gelände aufmerksam zu machen? Aber der Ignorant wollte nicht hören und trieb die Truppe vorwärts, bis er sich eines Nachmittags auf einer Lichtung der versprengten Vorhut gegenübersah, die vier Fünftel seiner Armee in ein paar Minuten auslöschte. Neunhundert gute Soldaten waren auf dieser verdammten Lichtung geblieben an jenem Tag im Juli, und er fühlte noch jetzt, wie die Kugeln seinen Rock durchlöcherten, wie das Pferd unter ihm zusammensackte, er hörte noch jetzt, an seinem Fenster, die Schreie der Verwundeten, wie sie um Gnade bettelten, während ihnen die Wilden bei lebendigem Leibe die Schwarte vom Kopf schnitten. Erinnerte sich einer von denen, die ihn in den Schuldturm werfen wollten, wie er in Blut und Eingeweiden watend die Versprengten gesammelt und den Rückzug organisiert hatte, damit wenigstens dieses Fünftel am Leben blieb, für weitere Schlachten ihres Königs, der ihm jetzt die Schlinge um den Hals legte? Spielte es denn keine Rolle, dass er ein Leben lang das Licht des Abendlands, die Fackel der Aufklärung, das Heil des Evangeliums in diese Wälder zu bringen versucht hatte, in diese Wildnis, die nur Mord und Hexerei kannte? Hatte einer von den feinen Herren in ihren Kontoren jene Hütte am Fluss betreten, die so verdächtig still lag, so friedlich, hatte einer die Frau gesehen vor dem Kamin, den Vater, die sechs Kinder in ihrem Blut? Hatte einer dieser Herren je seinen Untertan begraben so wie er, mit bloßen Händen?
    Dafür gab es keinen Dank. In den Augen seiner Herren blieb er ein Untertan, ein Schuldknecht, ihrer Willkür ausgesetzt, wie die Negersklaven seiner Willkür ausgesetzt waren. Nichts unterschied ihn von diesen, die man aus Afrika über das Meer verschifft und in Ketten gelegt hatte, die draußen in der Hitze schufteten, noch immer ihre Stammesmale trugen und sein Englisch nicht verstanden. Nein, er war ein Sklave wie sie – aber seine Fesseln waren nicht aus Stahl, sie waren aus Papier und trugen das Siegel der Bank of England.
    Aber etwas war geschehen. Er hatte begonnen, sich als freier Mensch zu fühlen. Und er fand bald andere, die dasselbe empfanden, fand Männer, Pflanzer wie er, reich und verschuldet wie er. Sie taten sich zusammen, gründeten Parteien und erhoben sich, nicht bereit, jene neue Stempelsteuer anzuerkennen, die der König erfunden hatte, um der Kolonie noch mehr abzupressen. Sie wollten wählen, ihre eigene Regierung, ihr eigenes Parlament, ihre eigenen Gesetze, ihre eigenen Gerichte. Und sie wollten ihre eigene Armee. Sie hoben Männer aus und drillten sie. Sie gingen das Problem auf die bewährte, menschliche Weise an, mit Krieg und Blutvergießen.
    Aber wenn sie keine Männer ausgehoben und gedrillt, wenn sie die Unabhängigkeit nicht ausgerufen und keinen Krieg angezettelt hätten, dann wäre George Washington nicht der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika geworden, und der englische König hätte weder Virginia noch Maryland verloren, er hätte keine neue Strafkolonie benötigt. Nun aber brauchte er eine Küste, an die er seine Verbrecher transportieren konnte, so wie er es immer getan hatte, wenn die Gefängnisse im Königreich überfüllt waren. Und so ging das Geschäft voran und landete auf einem Chippendale-Schreibtisch aus Mahagoni und in japanischer Art gelackt, der in einem Zimmer in Whitehall stand, im Büro des Innenministers, der an einem Freitag im August 1786 eine Anordnung auf das Papier setzte. Es war der Befehl seiner Majestät, die Verbrecher des Königreiches aus dem Land zu schaffen, auf

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