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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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seiner Männlichkeit, seines Stolzes und seiner Tugend und wandte den Blick der Wirklichkeit zu. Er sah, wie verkommen seine Welt, mit welchem Abschaum er eingepfercht war. Er saß mitten auf dem Atlantik, in einer Nussschale, mit den dreckigsten Huren des Königreichs, vierundzwanzig verkommene Weiber, die man wie Tiere unter Deck halten musste, weil sie sich für eine Handvoll Zwieback vom schmutzigsten Bootsmann bespringen ließen. Dazu gesellten sich achtzig Schläger, Diebe und Straßenräuber, jederzeit bereit zu einer Ruchlosigkeit, nichts weniger als der Ausfluss der Menschheit, verdorben an Leib und Seele, faul bis ins Mark, gefährlich für alles, was wie er, Ralph Clark, einen letzten Rest gesunder Seele besaß.
    Nach sechs Tagen überkam den Sergeanten eine Schwäche, eine Übelkeit, ein Ekel vor dem Meer, in das er sich übergab, morgens, mittags und in der Nacht, sechs Tage lang, bis der Magen leer war und er gelbe Galle kotzte bis zur vollständigen Erschöpfung. Erst dann war er schwach genug, um sich in die Bewegung des Schiffes fallen zu lassen. Die ›Friendship‹ wiegte den Soldaten in einen seichten Schlaf, wo er seiner Liebsten begegnete. Er war vereint mit der Zartesten ihres Geschlechts, dem Licht seiner Tage. Er fühlte ihre Lippen, ihre Haut, er starb in ihrem Blick. Clark schlug die Augen auf, aber das Traumbild verschwand nicht, Alicia stand weiter vor ihm, er griff nach ihr, taumelte ihr entgegen, auf das Licht zu, das sie umfing. Doch hinter der Tür seiner Kabine fand er nur die Sonne und das leere Meer. Die Dünung hob den Kahn, mit der Dünung sank er wieder, es war Clark, als fühlte er seine Liebste atmen, als läge er mit seinem Kopf auf ihrer warmen Brust.
    Die Nacht war ruhig, keine Winde. Er nahm Alicias Bild aus dem kleinen Beutel und küsste es einhundertmal. Auf der ganzen Welt gab es keine schönere Frau. Wenn sie hier bei ihm wäre, würden sie versuchen, sie ihm wegzunehmen, aber zuerst müssten sie ihm den letzten Tropfen Blut nehmen. Er träumte, Alicia sei mit dem Kind bei Dr. Kempster, und als er erwachte, hoffte er bloß, der Junge sei gesund – allein der Gedanke machte Clark zum unglücklichsten Menschen.
    Jemand brachte einen Teller Essen, er trank eine Flasche Portwein und besann sich zu Vernunft und Nüchternheit.
    Landgang. Am Hafen sammelte er Schmetterlinge, viele, alle für seine geliebte Alicia. In einem Gasthaus machte er Rast. Er bat um Orangen, als Alicias Bild aus seiner Brust sprang. Eine Lady fragte, was das sei, er erklärte es ihr, und sie bat darum, es sich ansehen zu dürfen. Sie wollte nicht glauben, dass auf der Welt solch Schönheit zu finden sei, aber er versicherte ihr, in Wahrheit sei die Geliebte noch viel schöner. Wie erleichtert war er, als sie ihm das Bild zurückgab. Die ganze Zeit hatten seine Hände gezittert, wie ein kleiner Vogel in der Hand eines Schuljungen.
    Auf dem Schiff bekamen sie wieder das Einerlei aus Brot, Schweinefleisch und Gepökeltem zu essen, und niemals hatte die Menschheit einen solchen Transport gesehen, elf Schiffe, tausend Seelen. Die Freien und die Verdammten waren unter allen zu finden, unter jenen, die in eisernen Fesseln lagen, und unter jenen, die frei an Deck gingen; unter jenen, die bei Verstand waren und unter jenen, die von Geistern heimgesucht wurden und im Wind Klänge hörten. Über die Weiten des Ozeans erreichten sie das Schiff und ihre Ohren, manche sahen im Wasser Bilder, die von der Tiefe einen Moment enthüllt und im nächsten wieder verschlungen wurden.
    Nach dreizehn Wochen auf See, am dreiundzwanzigsten Juni, nach einem heißen Tag und einer moderaten Brise aus Nordwest, als die Schiffe in Formation tiefer in den Süden stießen, da kam Ralph Clark dem Wahnsinn nahe bis auf zwei, drei Gedanken. Der Tag davor hatte seine restliche Kraft aufgezehrt, es war sein Hochzeitstag, er musste ihn zwischen Tauen, Feuchtigkeit und Hitze irgendwie überleben, er sprach sich zu, ermahnte sich, an anderes zu denken, an die Aufgabe, die Ordnung, die Befehle, aber großer Gott, himmlischer Vater, nimm mein Gebet und meinen Dank und jenen deiner Dienerin Alicia, dass du unsere Hände und unsere Herzen heute vor drei Jahren zusammengeführt hast in glücklicher Vereinigung. O gnadenvoller Gott, wie kann ich mich vor dir demütigen, wie kann ich dir jemals danken für dieses himmlische Geschenk. O geliebter Gott, beschütze und behüte sie, gib ihr Gesundheit und Wohlergehen, ihr und dem Versprechen unserer

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