Koala: Roman (German Edition)
der Sträflinge, und es ist nicht überliefert, wer als Erstes an die Reihe kam, ob die Verdammten drängelten, um auf einem der ersten Boote Platz zu finden, sicher ist nur, es dauerte bis sechs Uhr abends, bis der Letzte der siebenhundertfünfzig Elenden, Männer, Frauen, Kinder, das Schiff verlassen hatte.
Und es sei, so berichteten sie, keine Stunde vergangen, und noch bevor das letzte Zelt aufgespannt gewesen sei, dass Wind aufkam und ein Regen einsetzte, der mit jeder Minute schwerer und dichter fiel, bis ein Vorhang aus Wasser über den Menschen am Ende der Welt niederging. Danach brach ein Sturm über das Lager herein, wie keiner je einen erlebt hatte. Die vertäuten Schiffe in der Bucht wurden bis vierzig Grad über die Vertikale auf die Seite gedrückt, die Matrosen, die den ganzen Tag Grog getrunken hatten, gelähmt und unfähig, klammerten sich hilflos an der Reling fest, während draußen die Brandung toste und in einen Baum, der in der Mitte des Lagers stand, der Blitz einschlug und sechs Lämmer tötete. Es schien, als wolle der Kontinent sie abwerfen, wie ein Bulle, den man zu reiten versucht. Die Männer fluchten, die Frauen schrien, die Kinder wimmerten, nichts besänftigte den Himmel, kein Gebet und keine Verwünschung. Die ganze Nacht wütete der Orkan, und erst als der Morgen graute, ließen die Böen langsam nach, doch der Regen fiel ohne Unterlass, schwer und öde, als wollten sich Himmel und Erde vereinigen, wie einer in sein Tagebuch schrieb, als wollte man sie, wie Ungeziefer, zurück in den Ozean spülen, hinaus ins Wasser, woher sie gekommen waren.
Tags darauf ließ der Gouverneur das Lager an treten. Die Soldaten trommelten und pfiffen die Verdammten zu einem nassen, dreckigen Haufen zusammen, umkreisten sie und befahlen ihnen Stille. Dieser Mann, Arthur Phillip mit Namen, ein dürrer Veteran des Siebenjährigen Krieges, gerade fünfzig geworden, mit einem Rückenleiden, gescheitert als Landwirt, hatte bereits als Kommandeur in portugiesischen Diensten Sträflinge an die brasilianische Küste transportiert und war also erfahren in der Deportation von Menschen. Bei seinen Vorgesetzten galt er als gehorsam, mutig und aufopfernd, ein halber Deutscher, Sohn eines Frankfurters, der als Sprachlehrer nach England gekommen war. Er ließ die angetretenen Elenden wissen, dass er sie bis ins Innerste für verdorben hielt, zur Besserung unfähig, es sei ihm klar, wen er vor sich habe, Diebe, Räuber und Huren, aber falls jemand dasselbe Gebaren wie in der Heimat an den Tag legen sollte, so müsse er wissen, dass er einen Hühnerdieb nicht ins Gefängnis, sondern zum Galgen führen werde. Diebstahl sei hier ein kapitales Verbrechen gegen die Existenz eines jeden von ihnen und werde unnachsichtig bestraft, er werde nie ermüden, bis in dieser Bucht Zucht und Ordnung herrsche, es sei ihr gemeinsames Schicksal, diese Kolonie aufzubauen. Danach ließ er die Tamboure einige Wirbel rühren, und die Soldaten feuerten Salven über die Köpfe der Sträflinge. Der Gouverneur lud die Offiziere zu einem kalten Mahl ein, ein Schaf aber, das die Nacht zuvor vom Blitz erschlagen worden war und das man gekocht und aufgetischt hatte, war bereits von Maden zersetzt; es schien, als würde in diesem Land nichts länger halten als vierundzwanzig Stunden.
In den folgenden Wochen erkundeten die Soldaten die Gegend, streiften durch die lichten Küstenwälder, suchten Frischwasser und Bauholz, sie schauten mit englischen Augen und erkannten englische Blumen, verglichen das Unbekannte mit dem Vertrauten. Eine weiße Blume im Unterholz wurde ihnen zum Buschwindröschen. Ein buntgefiederter Vogel zum Distelfink. Die Schönheit des Landes betörte sie, diese Bucht am Ende der Welt, so redeten sie sich ein, sehe auch nicht anders aus als die Bucht in ihrer Kindheit, wo der Großvater die Herde hatte weiden lassen. Aber die Bedrohung dieser Wildnis ließ sich nicht verleugnen, und auch nach über zweihundert Jahren kann man die Angst in den Zeilen im Journal jenes Offiziers spüren, der eines Tages den Anschluss an seinen Trupp verlor und sich in einem Dickicht von baumhohem Farn wiederfand, ohne Ahnung, in welche Richtung er sich bewegen sollte, und nur durch reines Glück nach Stunden eine Stelle erreichte, von der aus er die Schiffe und das Lager erblickte, gerettet, wenigstens einstweilen.
Und es hatte zu Hause auch jene Gestalten nicht gegeben, die schon am ersten Tag am Strand erschienen waren, in langen Booten in die
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