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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Menschen, so schwer es vorzustellen war, waren hier in dieser fremden Bucht am Ende der Welt zu Hause, das war ihre Heimat, sie kannten jede Pflanze und waren mit jedem Baum und jedem Stein vertraut. Das Land gab ihnen genug zum Leben, und die Engländer fragten sich, wie sie das anstellten. Ohne ihren Proviant, ihr Mehl, den Reis und das Pökelfleisch, das sie über die halbe Welt verfrachtet hatten, wären sie über kurz oder lang verhungert. So wie es Philip Scriven beinahe geschah, einem Seemann auf der ›Lady Penrhyn‹, der sich eines Tages zu weit von seinen Leuten entfernte und von der Wildnis verschluckt wurde. Zuletzt hatte man ihn bei den Frauenzelten gesehen. Zwei Matrosen machten sich auf die Suche, ausgerüstet mit einem Vorderlader und einem Kompass, ohne Ergebnis. Erst zehn Tage später stieß Allen, der Wildhüter des Gouverneurs, acht Meilen südlich des Lagers auf einen halbverhungerten, nackten und zerschlagenen Mann, in dem er nur mit Mühe den verlorenen Matrosen erkannte. Er war auf eine Gruppe Eingeborener gestoßen, die ihn geschlagen und mit Steinen beworfen hatten. Die Schiffe in Sicht, hatten sich die Wilden ihm in den Weg gestellt und hätten ihn ohne Zweifel umgebracht, hätte er sich nicht in einen Sumpf geflüchtet, versunken bis zum Hals, versteckt im Schilf. In der ganzen Zeit hatte er sich von einem Dutzend Strandschnecken ernährt, mehr hatte er nicht gefunden – das Land, so kamen sie zur Überzeugung, würde sie niemals ernähren können, obwohl der Gouverneur das Gegenteil behauptete und die Offiziere seinen Enthusiasmus über den wilden Spinat, den sie als Gemüse essen sollten, teilen mussten. Abends aber, in ihren Schlägen, vertrauten sie den Tagebüchern ihre Verzweiflung an, beschrieben das Land als letzte Station vor der Hölle, und es schien aussichtslos, mit diesen verdorbenen und faulen Sträflingen eine Kolonie aufzubauen, die sich eines Tages selbst erhalten sollte. Man hätte sie sehen mögen, wie sie abends im Schein ihrer Karbidlampen die Seiten vollkritzelten, ihre vollen Herzen leerten, sich von des Tages Eindrücken entlasteten, die sich in ihre Hirne prägten wie ein Siegel ins heiße Wachs. Hastig skizzierten sie die Gestalt ihrer neuen Heimat, die Topografie der Küste, hielten die Pflanzen und die Tiere, die Emus und die Kängurus und ihr eigenes Befremden über diese Kreaturen fest. Aber keiner von ihnen, deren Sinne in der Fremde geschärft waren, keiner sollte das Tier zu Gesicht bekommen, nichts von seiner Existenz erfahren noch seinen Namen hören. Kein Gerücht drang zu ihnen, kein Ruf, kein Geruch und keine Spur. Nicht einer der Offiziere, weder der Gouverneur noch der Stabsarzt, keiner der einfachen Soldaten, kein Seemann, nicht der Koch und nicht der Priester, nicht einer zeichnete seine Umrisse in eine Kladde, niemand malte eine Tafel, niemand mischte das Grau oder bildete die Dichte des Felles nach, niemand versuchte sich an den silberweißen Pinseln am äußersten Ende der Ohren. Und doch waren sie dabei, seine Geschichte zu bestimmen, denn ohne dass sie es ahnen konnten, hatten sie das Schicksal des Tieres in dieses Land gebracht.
    Vielleicht hat einer der Verdammten, der Elenden, der Verlorenen, eine der Geschlagenen, Vergewaltigten, der Gefesselten das Tier gesehen, vielleicht traf sich der Blick des Tieres mit einem der Geschundenen. Vielleicht sah einer jener, die am Ende der Welt zur ewigen Schinderei verdammt waren, jenes Wesen der Faulheit in der Ruhe der Sonne auf einem Ast sitzen. Vielleicht gab es eine Begegnung zwischen den Vertretern der Pflicht und denen des Müßigganges, zwischen dem Gleichmut und der Leidenschaft. Vielleicht trafen sich die Blicke aus den eitrigen, wässrigen, geröteten mit jenen der stillen, schwarzen Augen. Niemand kann es sagen. Sie schrieben es nicht auf. Sie hatten weder Papier noch Zeit. Man hatte sie hierher gebracht, um eine neue Welt zu bauen, und wenn der Mensch eine neue Welt errichten will, dann lässt er zuerst die Erde umgraben.

Man brauchte Gruben, um Baumstämme zu zersägen, Gruben für die Exkremente, Gruben, um die Toten zu verscharren, die beinahe jeden Tag anfallen sollten. Wenige Wochen nach ihrer Ankunft war die Gegend mit Löchern, Mulden und Kanälen durchzogen.
    Sie schlugen Schneisen in den Dschungel, bauten Straßen, errichteten dem Gouverneur ein Haus, danach den Soldaten Baracken, alles in Miniaturformat, eine Kinderwelt. Abends in der Dämmerung, wenn Rauch aus den Kaminen in

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