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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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ein wenig in dieser Landschaft versinken, bis er einsah, dass er niemals eine Passage finden würde. Das Ziel war der Grund für das Scheitern, sein Ehrgeiz war das Hindernis, und hätte er sich treiben lassen, wäre er seinem Hunger und dem Wild gefolgt, hätte er es verstanden, die Spuren zu lesen, nicht nur jene im Sand, sondern die Spuren, die von den Geistern dieses Landes gezeichnet wurden, vielleicht hätte er eines Tages auf der anderen Seite der Berge gestanden, ohne es gewollt zu haben. Er betrachtete das Fundgut, seine Sammlung getrockneter Pflanzen, die versteinerten Farne, die bei der geringsten Berührung zerbröselten, die Skizzen und Karten, die ihm jetzt unbeholfen und lächerlich erschienen, er sah die im Spiritus schwimmenden Gliedmaßen des Tieres – all die hilflosen Versuche, dieses Land zu verstehen, einen Platz im Bewusstsein zu finden, einen Namen, eine Koordinate. Als Barrallier zwei Wochen später in Sydney Bericht über seine Expedition erstattete und er Lob und Trost erhielt, da wusste er, dass er nicht an der Geografie, sondern an seinem Ehrgeiz gescheitert war, und die Trophäe seiner Niederlage war das Glas mit den in Spiritus eingelegten Pfoten, das er dem Gouverneur auf den Schreibtisch stellte.
    Die Teile des Tieres und sein Name fanden den Weg nach Europa und erregten die Neugier der Naturforscher, doch es dauerte weitere zwei Jahre, bis man ein ganzes Tier erlegen konnte. Zwei Jäger entdeckten in Queensland einen Koala, unerreichbar hoch in einem Eukalyptus, weshalb sie das Tier von seinem Ast schüttelten. Der erste von Weißen getötete Koala fiel zu Tode, wie jener Jäger in der Legende zu Tode gestürzt war.
    Ein ausgestopftes Exemplar schaffte es bald darauf in das berühmte Museum am Picadilly Circus in London, ein als ägyptischer Tempel gestaltetes Panoptikum, das einem Mr. Bullock gehörte, Fellow der Linnean und Ehrenmitglied der Dublin Society, wie er auf dem Frontispiz seines Führers durch die Sammlung anmerkte, eine Sammlung, die er in sechzehn Jahren zusammengetragen hatte, mit Auslagen von vierundzwanzigtausend Pfund. Es muss dieser ausgestopfte Pelz gewesen sein, ein fantasievoll gekürschnerter Balg, der kaum etwas mit dem lebendigen Tier zu tun hatte, den ein junger Taxonom irgendwann im Frühjahr 1815 auf seiner Reise nach London zu Gesicht bekam, im Kasten mit den Makaken, in den man auch die Flughörnchen und das Opossum steckte, jene Tiere, die einer endgültigen Einordnung in die wissenschaftliche Systematik harrten. Es sollte dieser Henri Marie Ducrotay de Blainville sein, der das Tier in die Listen der zoologischen Taxonomie einführte, im ›Bulletin des Sciences‹ der ›Société philomatique‹ des Jahres 1816, wo er den bescheidenen Versuch unternahm, das Tierreich neu zu ordnen. Da er in den bekannten Klassen keinen Platz für das seltsame Wesen fand, schlug de Blainville vor, eine neue Art einzuführen, Phascolarctos, den Beutelbären, dessen spezifische Merkmale er wie folgt zusammenfasste: Sechs Schneidezähne, vier untere Backenzähne, auf jeder Seite zwei Klauen, fünf geteilte Finger in zwei gegenständigen Gruppen, zwei innen, drei außen, äußerst kurzer Schwanz.
    Gewiss betrieb de Blainville seinen Beruf mit Hingabe und Ernsthaftigkeit. Seine Klassifikation betrachtete er als höchstens vorläufig, bis sein Mentor, der große Georges Cuvier, sie überprüft hatte. Wie groß hingegen seine Zuneigung zu diesem Tier war, das er untersuchte, lässt sich aus seinem Bericht nicht schließen, aber ein Hinweis auf die Haltung, mit der er zu Werke ging, gibt eine andere Studie aus seiner Feder, die sich in derselben Zeitschrift findet. Er beschränkte sich nämlich bei seinen Klassifikationen nicht auf die Tierwelt, auf Seite einhundertdreiundachtzig derselben Revue veröffentlichte de Blainville seine Untersuchungen an Sarah Bartmaan, jener südafrikanischen Frau, die zu dieser Zeit in Europa mit ihrer Erscheinung Furore machte, das heißt, um genau zu sein, vor allem mit ihrem Hintern, dessen Größe das zahlende Publikum in den Varietés in Erstaunen versetzte. In seinem Artikel verfolgte de Blainville zwei Ziele: Erstens wollte er die niederste Rasse der Menschheit mit der höchsten der Affen, den Orang-Utans, vergleichen; ferner die möglichst genaue Beschreibung der körperlichen Anomalien ihres Geschlechtsapparats unternehmen. Es ging die Rede, dass diese Frau zwischen ihren Beinen eine sogenannte Schürze trug, eine zehn Zentimeter lange

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