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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Erweiterung der Schamlippen, aber weil sie bei der Examination von de Blainville weiterhin ablehnte, sich vollständig zu entblößen, musste sich seine Darstellung auf die Beschreibung ihrer erstaunlich kurzen Füße beschränken, der langen Beine und natürlich des tatsächlich enormen Hinterns, zwanzig Zoll hoch, sechs bis sieben Zoll breit, eine einzigartige Erscheinung, wie er enthusiastisch schrieb, denn statt unmerklich aus den Lenden zu wachsen, ragten die Backen horizontal hervor. Ihre Falllinie gegen die Schenkel sei konvex und bilde an der Wurzel eine tiefe Furchung, und wenn man den Hintern anfasse, könne man sich überzeugen, dass er vor allem aus Zellfett bestehe, das erzittere, wenn die Frau sich bewege, und abflache, wenn sie sich hinsetze.
    Das waren wichtige Erkenntnisse, doch das letzte Rätsel blieb ungelöst, denn selbst nach einer Annäherung, die de Blainville mit »tourmenter«, als foltern oder zumindest belästigen beschreibt, und auch nicht nach dem Angebot von Geld ließ sie ihn einen Blick auf ihr Geheimnis werfen, sondern reagierte ungezügelt. So blieb dem Forscher nur festzustellen, dass, solange die Frau aufrecht stehe, nichts zu sehen sei. Wenn sie sich bücke allerdings, erkenne man einen gewissen Schatten. Er musste die Enthüllung seinem Meister Cuvier überlassen, der die Frau schon einige Monate später in einer vorteilhafteren Position untersuchen konnte, als Leiche auf dem Seziertisch nämlich, wohin man sie nach ihrem plötzlichen Tod gebracht hatte. Es war also Cuvier, nicht de Blainville, der die größte Berühmtheit der Naturgeschichte, die Schürze der Hottentotten, der vollständigen Klärung zuführte, und es war nicht de Blainvilles Beschreibung des Beutelbären, sondern der Eintrag Cuviers in seinen »Règne Animal«, der darauf Karriere machte und die Biologen Europas inspirierte.
    George Perry, der englische Schneckenforscher, schrieb, unter allen seltsamen Tieren, die aus der Neuen Welt bekannt seien, gebühre dem Koala bestimmt ein besonderer Platz, und wenn man seinen ungeschickten und unbeholfenen Körper betrachte, ganz abgesehen von seiner seltsamen Physiognomie und seinem bizarren Lebenswandel, dann fehle einem jede Erklärung, zu welchem Zwecke der große Autor der Natur ein solches Wesen erschaffen haben mochte. Und kein Naturforscher, einerlei von welchem Gemüt, hätte sich eine solche Kreatur erträumen mögen.
    Weder Charakter noch Aussehen seien für einen Naturforscher von Interesse, aber da die Natur nichts ohne Grund erschaffe, sei dieses Tier ein Zeuge für den Reichtum, den Gott in seiner Weisheit erschaffen habe. Und da es weder Wölfe noch Tiger in Neuholland gebe, habe das plumpe Tier keine natürlichen Feinde.
    Sein Äußeres, so meinte Perry, gleiche von weitem trockenem und totem Moos. Die Bewegungen eines solchen Tieres müssten langsam und träge sein, der Rücken sei durch das ewige Kopfüberhängen langgezogen, allerdings konnte er nichts Genaues sagen, denn noch hatte keiner der Naturforscher einen lebendigen Koala gesehen. Sie lebten von den Beschreibungen der Entdecker. Dann endlich verschiffte man zum ersten Mal ein weibliches Tier nach Europa, wo es die Zoological Society in London erstand. Das Tier hielt sich gut und machte seinen Gastgebern viel Freude. Man hielt den Koala mit besonderer Vorsicht, aber eines Nachts, auf einer seiner Wanderungen, verhedderte er sich in einem Wäscheständer und erstickte.
    Doch war das Tier für die Wissenschaft nicht verloren, denn zum ersten Mal besaß man ein Exemplar, das nicht in Spiritus eingelegt war, sondern noch warm untersucht werden konnte. Man entdeckte die Membranen der inneren Häute, die eine zauberhafte samtene Textur aufwiesen, und vor allem stieß man auf das Caecum, den Blinddarm, den verhältnismäßig größten, den man je bei einem Tier entdeckt hatte.
    George Perry hatte recht gehabt. Eine Kreatur wie den Koala dürfte es nicht geben, nicht nach den allometrischen Gesetzen. Ein Säugetier, das sich von Pflanzen ernährt, sollte sich an Nüsse, Beeren oder Knollen halten, es sollte sich eine Futterquelle suchen, die Fett, Zucker oder Stärke enthält, Stoffe, die vom Organismus schnell und unkompliziert in Energie umgewandelt werden können. Laub ist für einen Warmblüter keine gute Wahl, der Aufwand, der betrieben werden muss, um daraus die verwertbaren Stoffe zu lösen, ist zu groß, man braucht einen Verdauungsapparat, der bei manchen Arten, zum Beispiel bei Kühen und

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