Kobra
vorstellt, der jede freie Minute nutzt, um sich weiterzubilden, so täuscht er sich. Für Minuten wie diese lege ich mir beizeiten etwas von den guten Abenteuerautoren zurecht – Stevenson, Haggard, Cooper, die großen Freunde meiner Kindheit. Ich weiß, dass sie sich bei den Literaturlehrern nicht besonderer Beliebtheit erfreuen, habe sogar auf einen Elternabend erlebt, wie der Bannfluch gegen sie geschleudert wurde. Aber was will man machen, zur Umerziehung ist es für mich zu spät. Und so vertiefe ich mich in „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. „Vertiefen“ ist nicht das treffende Wort, denn ich habe das Buch schon wer weiß wie viele Male gelesen. Ich rufe mir eher die eine oder andere Episode ins Gedächtnis, die ich mir selbst vorspiele. Ich entspanne. Das Bewusstsein ist frei, und das Unterbewusstsein – ich weiß! – tut das Seine bei der verworrenen Geschichte Raphael Delacroix’s.
Zugleich lasse ich den Korridor nicht aus den Augen.
Die großen Hotels sind etwas Merkwürdiges. Eigentümliche Inseln, auf denen die Zeit anders abläuft. Jeder, der hierherkommt, tut das in dem Bewusstsein, dass dieses Zimmer, dieser Korridor oder Teppich etwas Vorübergehendes in seinem Leben sind. Manche stört das, andere geraten in eine Art touristischen Rauschzustand und begehen Dummheiten, an die sie sich später nicht mehr erinnern wollen.
Durch den Korridor gehen Leute, Türen klappen. Einen Augenblick lang ist eine bekannte Melodie zu hören, wahrscheinlich von einem Rekorder, dann wird sie von einer Tür erstickt. Das ist die Stunde der abendlichen Hektik im Hotel. Da sind Verabredungen getroffen, die zustandekommen oder nicht, da sind Theatervorstellungen, bei denen man sich nicht verspäten darf, Abendveranstaltungen, die sehr wichtig sein können. Jetzt rasieren sich die Männer in den Zimmern, mustern mit kritischem Blick die weißen Hemden und suchen ein paar hübschere Manschettenknöpfe, die, wie gewöhnlich, schwer zu finden sind. Die Frauen wählen das Kleid für den Abend aus, die Kette, die Schuhe, sie machen sich Gedanken um Kleinigkeiten, im Wunsch, bemerkt zu werden, zu gefallen. Jede hat ihre eigenen Sorgen.
Ich jedoch sitze im Sessel. Ich bin nirgendwo zum Abendessen geladen, mein Kinn ist schon recht stoppelig, und ich habe kein weißes Hemd an. Das macht mich unabhängig. Ich lese die Geschichte von Dr. Jekyll und bewundere abermals die Beobachtungsgabe, die erforderlich ist, um so etwas zu schreiben. Nur das Auge eines Arztes kann solche Einzelheiten wahrnehmen.
Geschichten von Bewusstseinsspaltung (Schizophrenie) gehören überhaupt zu den merkwürdigsten medizinischen Geschichten. Innerhalb eines Augenblicks schaltet jemand auf ein anderes Bewusstsein um und beginnt das Leben eines völlig anderen Menschen, der bis dahin nicht existiert hat. In unseren Lehrbüchern der Psychiatrie wurde unweigerlich der „Fall des Bankiers“ zitiert – eines Pariser Bankiers, der sein Büro verließ, doch statt in seinen Klub zu gehen und dort zu Abend zu essen, kaufte er sich ein Ticket nach Bombay. Danach lebte er zwei Tage als der „andere“, bestieg das Schiff, reiste zwei Wochen nach Bombay, ohne sich an etwas aus seiner Vergangenheit zu erinnern, und als er in Bombay das Schiff verließ, sah er sich entsetzt um. Der Bankier in ihm war erwacht.
Und es gibt Fälle, wo das Bewusstsein dreifach wird, der Kranke kann einen Mord begehen und umschalten ...
Mord? Ich bin wieder bei Raphael Delacroix angelangt. Könnte dieser Mord von einem Kranken verübt worden sein?
Von einem Morphinisten?
Wie auf einem Filmstreifen ziehen die Gäste der „kleinen Etage“ an mir vorbei. Wer von ihnen könnte gespalten sein? Dieser Gedanke beherrscht mich derart, dass ich mich automatisch in Richtung Zimmer 330 drehe. Jeder von ihnen könnte der Mörder mit dem kranken Bewusstsein sein. Neumann ist in der verhängnisvollen Nacht weggegangen und wieder gekommen. Wer ist der richtige Neumann? Madame Nilsson hat nicht geschlafen. Doktor Poletti arbeitet mit Narkotika, und es ist bekannt, dass die Drogensüchtigen sehr oft in der Medizin tätig sind – Ärzte und Schwestern. Was weiß das Porzellanfigürchen? Und McBail, der abgereist ist?
Während ich mir verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf gehen lasse, setzen sich zwei Männer in die Sessel neben mir. Sie sind mehr dreckig als dunkelhäutig, tragen große goldene Uhren, funkelnde Krawattennadeln und Krawatten in schreienden Farben. Sie unterhalten
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