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König der Dunkelheit: Roman (German Edition)

König der Dunkelheit: Roman (German Edition)

Titel: König der Dunkelheit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lawrence
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ich hatte nur das Kästchen. Und so drückte ich es mir an die Stirn, als könnte ich die benötigte Erinnerung durch den Knochen pressen. Es fühlte sich an wie ein vergessener Name, der plötzlich auf der Zunge erscheint, von einem Moment zum anderen, dazu bereit, ausgesprochen zu werden. Doch in diesem Fall handelte es sich nicht um ein einzelnes Wort, sondern um viele, zusammen mit
Bildern und Dingen, die man berührt und geschmeckt hat. Es war ein Teil des Lebens, der plötzlich zurückkehrte.
     
    Die Erinnerungen durchfluteten mich, trugen mich von den kalten Berghängen durch die Jahre zurück. Fort waren plötzlich die Männer der Wache, fort die Rufe und Schreie.
    Ich sprang zum nächsten Griff, warf den Körper Arm und Hand hinterher und ließ den letzten Griff in dem Moment los, als die Finger den nächsten erreichten. Das Klettern ist eine Form des Glaubens, es gibt kein Zurückhalten, keine Reserve. Ich rammte die Finger in die Spalte, deren scharfe Ränder mir die Haut aufrissen. Die Zehen kratzten über rauen Fels, und das weiche Leder fand Haftung, als ich zu rutschen begann.
    In den Matteracks gibt es eine Felsnadel, die so gen Himmel zeigt, als wäre sie Gottes Zeigefinger. Wie sie entstand, wer sie aus dem Leib des Berges meißelte – ich weiß es nicht. Eins meiner Bücher spricht von Wind, Flüssen und Eis, die der Welt vor langer Zeit Form gaben, aber das klingt nach einer Geschichte für Kinder, und nach einer langweiligen obendrein. Besser ist es, von Winddämonen, Flussgöttern und Eisriesen aus Jötunheim zu sprechen. Es klingt weitaus interessanter und nicht weniger plausibel.
    Mit schmerzendem Arm verharrte ich, die Beinmuskeln gespannt, den Körper krumm am Fels, und stahl dem kalten Wind genug Luft, um mir die Lunge zu füllen. Es heißt, dass man nicht nach unten sehen soll, aber genau das mache ich gern. Es gefällt mir, kleinen Brocken nachzuschauen und zu beobachten, wie sie in der Tiefe verschwinden. Meine Muskeln brannten, und der Wind raubte mir die Wärme. Ich fühlte mich wie zwischen Eis und Feuer gefangen.
    Die Felsspitze erhebt sich in der Nähe eines Bergsporns, einer der Wurzeln des Gebirges, die zwei tiefe Täler trennt. Von den Geröllhängen unten am Sporn bis zum flachen Gipfel, auf dem vielleicht eine kleine Hütte Platz fände, ragt eine Felswand mehr als hundert Meter steil empor, zum größten Teil vertikal, an einigen Stellen mit Überhängen.
    Etwa dreißig Meter weiter unten sah ich den Felsvorsprung, auf dem ich der Ziege begegnet war. Die Höhen, die eine Bergziege allein in der Hoffnung auf ein wenig frisches Grün erklimmt, erstaunen mich immer wieder. Die Tiere scheinen über eine besondere Art von Magie zu verfügen, die es ihnen ermöglicht, ohne Finger oder Zehen zurechtzukommen. Ich hatte mich nach oben gezogen, und plötzlich war da die Ziege gewesen, direkt vor mir. Es gibt etwas Fremdes in den Augen einer Ziege, etwas, das man nicht in den Augen von Hund, Pferd oder Vogel sieht. Vermutlich liegt es an der rechteckigen Pupille. Als ob diese Geschöpfe aus der Hölle emporgeklettert oder vom Mond gefallen wären. In gegenseitigem Argwohn saßen wir da, während ich versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und während ich darauf wartete, dass das Leben langsam in meine Gliedmaßen zurückkroch.
    Ich entdeckte die Felssäule in meinem ersten Jahr als König von Renar, und in all meiner Zeit auf dem Thron war es vielleicht jener Teil des Berges, der es fast geschafft hätte, mich umzubringen. Mehrmals hatte ich vergeblich versucht, sie zu erklettern, und ich bin kein Mann, der leicht aufgibt.
    Coddin fragte mich einmal, warum ich klettere, und ich habe ihm einen Haufen Lügen erzählt. Die Wahrheit zumindest für diesen Tag lautet: Damals, als ich klein war, spielte meine Mutter für William und mich auf einem Instrument, das aus der Schatzkammer der Hohen Burg stammte. Ein Klavier.
Ein magisches Objekt, mit vielen weißen und schwarzen Tasten. Wir waren ziemliche Nervensägen, William und ich, das muss gesagt werden. Wir zankten, heckten dauernd irgendetwas aus und stellten immer wieder Unsinn an. Aber wenn unsere Mutter spielte, waren wir still und hörten zu. Ich erinnere mich an jeden einzelnen Moment, an ihre langen Finger auf den Tasten – sie bewegten sich so schnell, dass sie nur noch schemenhaft zu erkennen waren –, daran, wie sich ihr Oberkörper bewegte, an ihr Haar, das als Zopf zwischen ihren Schulterblättern hing, ans Licht, das aufs

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