Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
König der Dunkelheit: Roman (German Edition)

König der Dunkelheit: Roman (German Edition)

Titel: König der Dunkelheit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lawrence
Vom Netzwerk:
Holz des Klaviers fiel. Das alles sehe ich in meiner Erinnerung, aber ich höre nicht einen Ton. Meine Mutter spielt hinter Glas, durch zu viele Jahre von mir getrennt. Ich habe die Töne verloren – und noch viel mehr –, als ich von ihr fortgegangen bin, von der verdammten Kutsche und den Dornen.
    Ich sehe, aber ich höre nicht.
    Wenn ich klettere, und nur dann, wenn ich mich am Rand von allem befinde … Dann dringt der eine oder andere Ton an meine Ohren. Wie Worte, ohne Bedeutung am Rand der Hörweite. Die Musik erreicht mich … fast. Und dafür fordere ich jede Höhe heraus.
    Den achten Versuch, die Felsnadel zu erklettern, unternahm ich zu Beginn des Sommers, in dem der Fürst von Pfeil die Grenze meines Königreichs überschritt, mit seinem Heer, das bereits in Normardie und Orlanth geplündert hatte und Beute mit sich schleppte. Beute und auch Rekruten, wie leider gesagt werden muss, denn die Herren jener Länder waren nicht sehr beliebt, und der Fürst hatte die Herzen der Bevölkerung gewonnen, noch bevor alle Toten begraben waren.
    Beim Klettern geht es um Hingabe. An der Säule aus Fels gibt es Stellen, wo man einen Griff ganz aufgeben muss, bevor
man den nächsten erreichen kann. Und manchmal kann man ihn nur erreichen, indem man sich nach oben wirft, an einer Felswand, die keinen Halt bietet. In solchen Momenten fällt man, wenn auch nach oben, und wenn man den nächsten Griff nicht zu fassen bekommt, geht der Fall weiter, nach unten, bis ganz nach unten. Bei solchen Aufstiegen gibt es keine halben Sachen: Bei jeder Entscheidung setzt man alles auf eine Karte. Man kann auf diese Weise leben, obwohl ich das nicht empfehle. Letztendlich stirbt jeder, aber nicht jeder lebt. Der Kletterer mag jung sterben, aber er kann gewiss sein, gelebt zu haben.
    Beim Erklettern von Gottes Finger lernte ich viel darüber, wie man sich allein mit den Fingerspitzen festhält. Als ich mich schließlich schwach und zitternd auf die Spitze der Felsnadel zog, offenbarte sich mir die Erkenntnis, dass ich mich mein ganzes Leben lang an den Fingerspitzen festgehalten hatte.
    Auf dem Rücken lag ich. Ich lag auf dem Felsen, mit nichts zwischen mir und dem endlosen blauen Himmel. Ich hatte nichts Unnötiges mitgenommen, und auf dem kleinen Gipfel gab es für nichts anderes Platz, weder für Geister noch für lebende Personen, weder für Katherine noch für William oder Vater und Mutter. Das alles lag mehr als hundert Meter unter mir, zu weit entfernt, um meine Stimme zu hören. Nicht einmal der Schatten eines Kindes oder die Erinnerung an ein Kupferkästchen begleiteten mich auf dem Gipfel. Es ist nicht die Gefahr oder die Herausforderung, die mich klettern lassen, sondern Reinheit und Konzentration. Wenn man nur einen fünf Sekunden langen Sturz davon entfernt ist, ein Haufen aus zerfetzten Eingeweiden und zerschmetterten Knochen zu sein, wenn das ganze Gewicht an acht Fingern hängt, dann sieben, dann fünf, so sind alle Entscheidungen schwarz oder weiß und werden vom Instinkt getroffen, ohne irgendwelchen Ballast.
    Wenn man angestrengt klettert und einen schwierigen Gipfel oder Vorsprung erreicht, so erringt man eine neue Perspektive, man sieht die Welt anders. Es ist nicht nur der Blickwinkel, der sich verändert. Die Veränderung betrifft auch einen selbst. Es heißt, dass es kein Zurück gibt, und diese Erfahrung habe ich gemacht, als ich nach vier Jahren auf der Straße zur Hohen Burg zurückgekehrt bin. Durch die gleichen Flure bin ich gegangen, und ich habe mit den gleichen Leuten gesprochen, aber ich war nicht wirklich zurückgekehrt. Ich befand mich in einer neuen Burg, sah sie mit anderen Augen. So etwas geschieht auch, wenn man hoch genug klettert, doch beim Klettern muss man nicht jahrelang fort gewesen sein. Wer einen Berg erklettert und die Welt von seiner höchsten Stelle sieht, wird am nächsten Tag, wenn er hinabklettert, eine etwas andere Welt erblicken.
    Metaphysik einmal beiseite genommen, von der höchsten Stelle eines Berges kann man viel sehen. Wenn man die Beine über der größten Tiefe auf der ganzen Welt baumeln lässt, während einem der Wind von hinten durchs Haar streicht, und wenn der Schatten so weit fällt, dass er vielleicht nie den Boden berührt … dann bemerkt man neue Dinge.
    Auf der Straße haben wir Redensarten. Wir sagen »Pax«, wenn man uns mit den Händen in den Satteltaschen eines anderen Mannes erwischt. Wir sprechen von »die Einheimischen besuchen«, wenn sich ein Bruder

Weitere Kostenlose Bücher