König der Dunkelheit: Roman (German Edition)
nach einem Kampf aufmacht, um dunklen Geschäften nachzugehen. Wo ist Bruder Rike? Er besucht die Einheimischen. Im Hochland von Renar gibt es eine Redensart, die ich zum ersten Mal hörte, als ich zusammen mit Sir Makin ein Dorf namens Gutting erreichte. »Er nahm einen Stein für einen Spaziergang, Euer Gnaden.« Damals achtete ich nicht weiter darauf und hielt es für ein
bisschen Lokalkolorit, für einen Streifen Grün im Dung. In den nächsten Jahren hörte ich die Worte einige weitere Male, im Zusammenhang mit jemandem, der in geheimnisvollen Angelegenheiten unterwegs war. Einen Stein für einen Spaziergang nehmen. Wenn man auf eine bestimmte Redensart oder Ausdrucksweise aufmerksam geworden ist, bemerkt man sie plötzlich überall. »Hat seine Herde verloren«, lautete eine andere. Auf dem Paradeplatz hörte ich solche Worte, von den einheimischen Rekruten. »Der John von Bryn nahm sich meine Bogensehnen, während ich Wache hatte.« »Was willst du tun?« »Oh, keine Sorge, ich hab’s bereits getan. Hat seine Herde verloren, hat er.«
An einem hohen Ort, erst recht an einem, der schwer zu erreichen ist, bekommt man eine neue Perspektive. Als ich über die Gipfel und schroffen Hänge schaute, die mir vertraut geworden waren, bemerkte ich etwas Neues. Die Schatten gaben es preis, lockten den Blick zu Orten, wo das Land nicht ganz richtig lag. Man musste eine Zeit lang in die Leere starren, die Beine baumeln und die Gedanken hinter den Augen treiben lassen, bis sich alles setzte, wie der Schnee in der Glaskugel. Daraufhin sah ich die gleiche Szene, aber mit neuen Details.
Hoch an den Seiten fast jeden Tals und aller Schluchten, bis auf die höchsten von ihnen, hatte sich lockeres Felsgestein angesammelt und ein unsicheres Gleichgewicht gefunden. Zuerst lässt sich das Auge täuschen. Es muss eine normale Formation sein, von der Natur so gewollt. So viele Steine zu bewegen … Tausend Leben wären dafür erforderlich, und zu welchem Zweck?
Einen Stein für einen Spaziergang zu nehmen … Es war ein echter Zeitvertreib im Hochland, so tief in den Traditionen verwurzelt, so selbstverständlich, dass es niemand für erforderlich
hielt, mehr zu sagen. Über Generationen hinweg haben Männer, die zu den hohen Weiden gingen, um dort die Ziegen zu hüten, Steine mitgenommen, sie von einer Stelle des Hangs zu einer höheren gebracht. Damit leisteten sie ihren Beitrag für die Ansammlungen von Steinen, an denen auch schon ihre Väter und Großväter gearbeitet hatten.
Wenn sich ein Mann von Renar die Freiheit nimmt, seine Ziegen auf der Weide eines anderen Mannes grasen zu lassen, so riskiert er einen plötzlichen Bergsturz, und dann verliert er seine Herde. Und wenn es kein Mann von Renar wäre, könnte er sogar noch mehr verlieren.
Es ist schwer, einen Faden zu ziehen, wenn man läuft, und erst recht dann, wenn der Faden ein Plan ist und man seinen Faden aus einem Kästchen mit Erinnerungen zieht, während man von Tausenden Soldaten verfolgt bergauf läuft. Aber selbst unsere Feinde nennen die Ankraths schlau, und ich nenne uns clever. Deshalb zog ich noch ein wenig mehr, und plötzlich sah ich die Hänge, über die wir liefen, aus einem neuen Blickwinkel. Besser gesagt, aus einem alten, den ich vergessen hatte.
Aus dem Tagebuch von Katherine Ap Scorron
25. Oktober, Jahr 98 Interregnum
Ankrath. Die Hohe Burg. Wieder in meinen Gemächern. Ich bin immer in meinen Gemächern.
Ich hatte wieder jenen Traum. Den mit Jorg. Wie immer bin ich im Besitz des Messers, dreißig Zentimeter lang und schmal wie ein Finger. Er steht dort mit offenen Armen und
lacht. Er lacht mich aus. Ich trage das zerrissene Gewand und halte das Messer in der Hand, und er lacht, und ich stoße zu, so wie er zugestoßen hat … und ich stoße ihm das Messer in den Leib. Und die alte Hanna beobachtet mich dabei und lächelt. Aber mit ihrem Lächeln stimmt etwas nicht, und als Jorg zu Boden sinkt, bemerke ich die Flecken, die auch er hat, am Hals. Lange dunkle Flecken, die aussehen, als stammten sie von langen Fingern und einem Daumen.
Ich lasse den zerrissenen Satin durch meine Finger gleiten, und plötzlich bin ich es, die sich zerrissen anfühlt. Meine Erinnerungen kämpfen gegen die Träume an. Jeden Tag. Und ich weiß nicht, wer gewinnt und wer verliert. Ich erinnere mich nicht.
7. November, Jahr 98 Interregnum
Ankrath. Die Hohe Burg. Glockenturm, höchster Punkt.
Ich habe einen Ort gefunden, wo ich allein sein
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