König der Dunkelheit: Roman (German Edition)
allerdings mit seinem Bart kaum etwas zu tun hatte. Ich ließ es dabei bewenden und stellte eine näherliegende Frage. »Warum bist du auf?« Auf der Straße kroch Rike immer als letzter aus seinem Schlafsack; nie stand er ohne eine Drohung oder einen besonderen Anreiz auf.
Er kratzte sich am Kopf, als er meine Frage hörte. Sindri kam aus dem Stall und klopfte mir auf die Schulter. »Mit einem Bart wird er gut aussehen. Wir machen noch einen richtigen Wikinger aus ihm!«
Rike runzelte die Stirn. »Sie hat mich zum Ende des Sees gerufen.«
»Wer?«
Die Falten in seiner Stirn wurden tiefer und länger. Schließlich hob und senkte er erneut die Schultern und kehrte ins Gebäude zurück.
Ich blickte über den See. Auf der anderen Seite, von den grauen Regenschleiern fast verhüllt, stand ein Zelt, eine Jurte, so alt, dass sie vergilbt war. Ein dünner Rauchfaden kam oben durchs Rauchloch. Dort hatte die Seltsamkeit ihren Ursprung. Dort wartete sie .
Sindri folgte meinem Blick. »Das ist Ekatri, eine Völva aus dem Norden. Sie kommt nicht oft. Zweimal war sie während meiner Kindheit hier.«
»Völva?«, wiederholte ich.
»Sie weiß über Dinge Bescheid und sieht in die Zukunft«, sagte Sindri. »Eine Hexe. So nennt ihr sie, nicht wahr?« Er zog die Stirn kraus. »Ja, eine Hexe. Du solltest besser zu ihr gehen. Es wäre nicht gut, sie warten zu lassen. Vielleicht liest sie deine Zukunft für dich.«
»Ich gehe jetzt gleich«, sagte ich. Manchmal wartet und beobachtet man; bei anderen Gelegenheiten macht man sich sofort auf den Weg. Man findet nicht viel heraus, wenn man außerhalb eines Zeltes steht.
»Wir sehen uns drinnen.« Sindri nickte zur Feste und wischte sich Regen aus dem Bart. Er würde seinen Vater wecken, bevor ich das Ende des Sees erreichte, und ihm von den Trollen und Gorgoth erzählen. Ich fragte mich, was der gute Herzog von all dem halten würde. Vielleicht konnte ich es von der Hexe erfahren.
Der Boden bebte einmal, als ich am Ufer entlangging, und das Wasser des Sees tanzte dazu. Ich roch jetzt den Rauch vom Zelt der Hexe. Er legte mir einen bitteren Geschmack in den Mund und erinnerte mich an die Vulkane. Der Wind lebte auf und blies mir Regen ins Gesicht.
Der alte Lehrer Lundist hatte mir von Sehern, Wahrsagern und den Sternguckern erzählt, die unser zukünftiges Leben den Bewegungen der Planeten am Himmel entnehmen. »Wie viele Worte wären nötig, um die Geschichte deines Lebens zu erzählen?«, hatte Lundist gefragt. »Wie viele, um diesen Punkt zu erreichen, und wie viele mehr bis zum Ende?«
»Viele?« Ich lächelte und wandte den Blick vom Lehrer ab, sah durchs schmale Fenster in den Hof, zum Tor und den Feldern jenseits der Stadtmauern. Es juckte mir in den Füßen; ich wollte loslaufen, hierhin oder dorthin, solange die Sonne noch schien.
»Dies ist unser Fluch.« Lundist stampfte und stand mit einem Ächzen auf. »Der Mensch ist dazu verurteilt, seine Fehler ständig zu wiederholen, denn er lernt nur aus Erfahrung.«
Er glättete eine alte Schriftrolle auf dem Tisch, bedeckt von den Piktogrammen seiner Heimat. Sie wies auch Bilder im östlichen Stil auf, bunt und interessant. »Der Tierkreis«, sagte er.
Ich zeigte auf den Drachen, mit einigen kühnen Strichen in Rot und Gold dargestellt. »Dies hier«, sagte ich.
»Dein Leben ist vom Moment der Geburt bestimmt, Jorg, du kannst dir dein Zeichen nicht aussuchen. Alle Worte deiner Geschichte lassen sich auf ein Datum und einen Ort zurückführen. Wo sich die Planeten in jenem Moment befanden, wie sie ihre Gesichter drehten, welcher von ihnen in deine Richtung sah … Daraus ergibt sich ein Schlüssel, und dieser Schlüssel schließt all das auf, was ein Mensch jemals sein wird«, erklärte Lundist.
Ich wusste nicht zu sagen, ob er sich einen Scherz erlaubte. Lundist war immer ein Mann der Nachforschungen gewesen, der Logik und des Bewertens, der Geduld und des Scharfsinns. All das erschien mir sinnlos, wenn unser Weg von der Wiege bis zum Grab bereits unveränderlich in den Sternen geschrieben stand.
Ich erreichte die Jurte, ohne es zu bemerken. Abrupt blieb ich stehen und vermied es gerade noch, gegen sie zu stoßen. Langsam ging ich um das Zelt herum, fand den Eingang und duckte mich wortlos hindurch. Immerhin sollte die Hexe von mir wissen, wenn sie die Zukunft kannte.
»Hör zu«, sagte sie, als ich den Mund öffnete.
Mit überschlagenen Beinen nahm ich unter baumelnden Schoten Platz und schwieg.
»Gut«, sagte
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