König der Dunkelheit: Roman (German Edition)
sie. »Du bist besser als die meisten. Besser als
diese frechen, dreisten Jungen, die so gern Männer sein wollen und denen es eigentlich nur darum geht, die Worte aus ihrem eigenen Mund zu hören.«
Ich hörte das trockene Schnaufen, als die Hexe sprach, hörte das Knarren des Zeltes, das beharrliche Pochen des Regens und das Klagen des Windes.
»Du hörst also, aber verstehst du auch, was du hörst?«, fragte sie.
Ich beobachtete die Völva. Sie war alt, und man sah es ihr deutlich an. Ein Auge erwiderte meinen Blick; das andere lag eingesunken in grauen Hautfalten. Etwas rann daraus hervor, wie Rotz aus der Nase.
»Wer weiß, wie du nach neunzig Wintern aussiehst«, höhnte die Hexe. Ihr genügte ein Auge, um meinen Gesichtsausdruck zu deuten. »Die ersten fünfzig besonders harten verbrachte ich im Land von Feuer und Eis, wo die wahren Wikinger leben.«
Sie sah wie zweihundert aus, mit all den Falten, Warzen und Flecken. Nur das eine Auge wirkte jung, und das enttäuschte mich, denn ich war auf der Suche nach Weisheit hierhergekommen.
»Ich höre«, sagte ich. Meine Fragen behielt ich für mich, denn Besucher kamen nur, um Fragen zu stellen. Vielleicht mussten sie gar nicht ausgesprochen werden, wenn sie die Antworten kannte.
Die Hexe griff unter die vielen Lumpen und Felle an ihrer Hüfte. Sofort nahm der Gestank zu, und ich gab mir alle Mühe, nicht zu würgen. Als ihre Hand wieder zum Vorschein kam – mehr eine knöcherne Klaue, die Finger wie Krallen –, hielt sie ein Glasgefäß mit einer Flüssigkeit darin. »Erbauer-Glas«, sagte sie und befeuchtete sich die Lippen mit einer flinken rosaroten Zunge, wie fehl am Platz in ihrem verwelkten Mund.
Sie hielt die Flasche vorsichtig in den Armen. »Wie haben wir diese Kunst verloren? Selbst wenn du fünf Wochen reitest, in welche Richtung auch immer, du wirst niemanden finden, der so etwas herstellen kann. Und wenn ich sie einen Fingerbreit über einem Stein fallen lassen würde … Zerstört! In tausend wertlose Splitter zerfallen.«
»Wie alt?« Die beiden Worte rutschten mir aus dem Mund, trotz meiner Entschlossenheit, keine Fragen zu stellen.
»Zehn Jahrhunderte, vielleicht zwölf«, sagte die Hexe. »In dieser Zeit sind ganze Paläste zu Staub zerfallen. Die Statuen von Kaisern liegen zerbrochen und begraben. Und dies …« Sie hielt die Flasche hoch. Ein Auge drehte sich langsam in der grünlichen Flüssigkeit. »Noch immer ganz.«
»Ist das dein Auge?«, fragte ich.
»Ja, das ist es.« Sie beobachtete mich mit ihrem seltsam jungen Auge und setzte das andere in der Erbauer-Flasche auf den Boden.
»Ich habe es für Weisheit geopfert«, sagte sie. »Wie Odin bei Mimirs Brunnen.«
»Und hast du Weisheit bekommen?« Es war eine unverschämte Frage, wenn man bedachte, dass sie von einem vierzehnjährigen Jungen kam, aber die Hexe hatte mich zu sich gerufen, nicht umgekehrt, und je länger ich hier saß, desto kleiner und älter sah sie aus.
Sie grinste und zeigte dabei einen einzelnen braunschwarzen Zahnstumpf. »Ich habe festgestellt, dass es klug gewesen wäre, das Auge neben dem anderen zu lassen.« Das Auge blieb ganz unten in der Flasche liegen und sah links an mir vorbei.
»Wie ich sehe, hast du ein Kind mitgebracht«, sagte die Hexe.
Ich schaute zur Seite. Dort lag der Knabe mit gebrochenem Schädel, aus dem das Hirn quoll. Blut gab es kaum, aber
was davon geflossen war, lag in schockierendem Rot auf dem milchweißen Kopf. Nur selten zeigte sich das Kind in dieser Deutlichkeit, aber Ekatris Jurte enthielt Schatten, die Geister einluden. Ich sagte nichts.
»Zeig mir das Kästchen.« Sie streckte die Hand aus.
Ich nahm es von seinem Platz unter meinem Brustharnisch und hielt den kleinen Behälter fest, als ich ihn der Hexe reichte. Sie langte danach, viel schneller, als man es von einer Alten erwartete, und zog die Hand erschrocken zurück. »Mächtig«, kommentierte sie. Blut tropfte von ihren Fingern, aus zahlreichen kleinen Stichwunden, wie von Dornen. Der Umstand, dass die alten knochigen Finger überhaupt Blut enthielten, erstaunte mich.
Ich ließ das Kästchen wieder unter dem Brustharnisch verschwinden. »Ich sollte dich darauf hinweisen, dass ich nicht viel von Horoskopen und dergleichen halte«, sagte ich.
Sie leckte sich erneut die Lippen und schwieg.
»Wenn du es unbedingt wissen willst, ich bin eine Ziege«, fuhr ich fort. »Ja, eine verdammte Ziege. Hinter dem Ostwall gibt es ein ganzes Volk, das meine Geburt im Jahr
Weitere Kostenlose Bücher