König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)
vergessen.
Raphael kaute derweil übellaunig auf einem Stück Käse herum. Seinem Gesichtsausdruck war deutlich zu entnehmen, was er von diesem Geschmack hielt.
„Das hat die Kuh nicht verdient, dass man ihre Milch verfaulen lässt“, murmelte er.
Eleanor lachte auf. „Sei nicht so trübsinnig“, sagte sie. „Essen ist etwas Wunderbares. Du musst dich nur drauf einlassen.“
Raphael stöhnte auf. Dann warf er das Stück Käse endgültig auf den Teller zurück.
„Bitte entschuldige mich einen Augenblick“, sagte er. „Ich muss an die frische Luft.“
Mit diesen Worten erhob er sich und verließ den Frühstückstisch. Eleanor sah ihm sprachlos nach.
Aus den umliegenden Fluren trafen jetzt mehr und mehr Menschen ein, um sich zum Frühstück zu begeben. Raphael wand sich vorsichtig zwischen ihnen hindurch, sorgsam darauf bedacht, keinen von ihnen zu berühren. Er hatte mittlerweile gelernt, dass auch unbeabsichtigte Berührungen von ihm bei vielen Menschen unerwartete Reaktionen hervorrufen konnten. Einige hatten das Gefühl gehabt, von einem heftigen Stromschlag getroffen worden zu sein. Andere hatten ganz einfach weiche Knie bekommen und waren von einer Welle positiver Gefühle so überrascht worden, dass es sie förmlich von den Füßen gerissen hatte.
Schließlich jedoch erreichte er die hintere Tür zum Park. Hastig drückte er die schwere Türklinke herunter und nun stand er endlich im Freien. Der Tag mochte mit Sonnenschein begonnen haben, doch nun hatte sich der Himmel bereits wieder bezogen und ein leichter Nieselschauer setzte gerade wieder ein. Es schien wieder einer der üblichen Tage werden zu wollen, was das Wetter betraf – grau, feucht und windig. Schnell zog Raphael die Tür hinter sich zu, dann lief er in den Park hinaus.
Ein merkwürdiges Gefühl hatte ihn ergriffen. Eine innere Unruhe, die er nicht hatte niederkämpfen können. Beim Frühstück hatte es begonnen, als ihm plötzlich ein unerklärlicher Schauer über den Rücken gelaufen war. Ein Gefühl wie jenes, das Eleanor beschrieben hatte, als sie ihm Kälte zu erklären versucht hatte. Ja, Raphael war ein Kälteschauer über den Rücken gelaufen. Und bevor er nicht geklärt hatte, was hinter diesem ungewöhnlichen Gefühl steckte, würde er keine Ruhe finden, dessen war er sich sicher. So lief er nun unter den mächtigen Bäumen des Parks von Stratton Hall entlang und suchte nach dem Grund für seine unerklärliche Nervosität.
Vor ihm kam das Ufer des kleinen Sees in Sicht. Die Weiden hingen dort tief über die Wasseroberfläche und verliehen dem Ort eine finstere und traurige Stimmung. Nur selten kamen Patienten des Sanatoriums hierher und um diese Uhrzeit war ohnehin mit niemandem zu rechnen. Dieser Platz zog Raphael magisch an und ohne es sich erklären zu können, hielt er wie von selbst auf diese Richtung zu. Schließlich stand er am Ufer, um sich herum die rauschenden Weiden, während die kleinen Wellen des Sees, vom Wind getrieben, ein leises Plätschern zu seinen Füßen herantrugen.
„Ich grüße dich, Raphael“, erklang eine sanfte Stimme zu seiner Rechten. Im Bruchteil einer Sekunde war Raphael herumgefahren und blickte in die Richtung, aus der er die Stimme vernommen hatte. Dort, unter einer Weide, stand ein Wesen, das mit nichts zu vergleichen war, was Raphael kannte.
Von der Gestalt her war es ein Engel. Es leuchtete aus seinem tiefsten Innern heraus, ein warmes und pulsierendes Leuchten, wie nur das göttliche Feuer es auszustrahlen vermochte. Das Wesen hatte Flügel, die es in diesem Augenblick halb hinter seinem Rücken ausgebreitet hatte, doch das Bemerkenswerteste war zweifellos sein Körperbau. Raphael wusste, dass es Engel gab, deren Seele eher weiblich als männlich war, so wie Naral, die mit ihm zusammen gegen Samael gekämpft hatte. Solche Engel waren sanfter, nicht so kämpferisch wie jene, deren Seelen unzweifelhaft männlich waren. Auch ihr Körperbau war für gewöhnlich weiblicher, wenngleich unauffällig. Etwa so, wie der Körper einer sportlichen Frau. Doch das Wesen vor Raphael war so offensichtlich eine Frau, dass es nicht den allergeringsten Zweifel an seinem Geschlecht geben konnte. Zudem war sie, wie alle Engel in ihrer reinen Gestalt, nackt. Allein das pulsierende Licht, das sie umgab, verdeckte die Details ihres Körpers. Allerdings war es ohnehin kaum möglich, den Blick von ihrem Gesicht zu wenden, denn der Ausdruck in ihren Augen war so wenig weiblich, dass Raphael von einem
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