Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
nicht ganz getrocknet sein, wenn du den Codex am Abend zurückgibst.«
Paulos nickte zustimmend.
»Allerdings solltest du dich in der Zeit, in der wir für dich arbeiten, ein wenig nützlich machen«, fuhr der ältere der beiden Mönche fort.
»Was soll ich tun?«
»Löse die Pergamentblätter aus dem Vorsatz. Den Ledereinband kann man nur noch wegwerfen, aber vielleicht ist mit dem Pergament noch etwas anzufangen.« Petros drückte Heinrich den Einband in die Hand, während die Mönche begannen, sich über verschiedene Arten von Fadenbindung zu unterhalten.
Heinrich benutze ein langes, sehr scharfes Messer für die Arbeit. Die Seiten unter dem Schutzblatt waren voll dunkler Stockflecken. Die halb verwischten Buchstaben verrieten eine unsichere Handschrift. Vielleicht hatte man den Text einen jungen Mönch als Übung schreiben lassen. Flüchtig flogen Heinrichs Augen über die halb verblassten Zeilen, als sein Blick an einem einzelnen Wort hängen blieb. Helena! Er murmelte ein kurzes Gebet, bevor er weiterlas.
Es war eindeutig kein Text über ihre erste Reise ins Heilige Land! Ihre gesäuberte Vita konnte er fast schon auswendig hersagen. Dies hier war etwas anderes!
Zenon schüttelte ungläubig den Kopf. »Dass Helena in ihrer Jugend Schankwirtin war, habe ich ja schon einmal gehört. Aber so, wie es hier steht, war sie wohl nicht die Gemahlin des Constantius Chlorus, sondern zunächst nur seine Konkubine! Diese Geschichte, wie sie ihn zur Hochzeit bewogen hat … Es wundert einen nicht, dass diese Seiten aus ihrer Vita herausgenommen wurden. Und die Aussagen über die Drei Könige … darauf hätten wir auch selbst kommen können!«
»Glaubst du, wir werden den Ort finden, von dem hier die Rede ist?«, fragte Heinrich. Er konnte seine Aufregung kaum noch im Zaum halten.
»Nun, der Ölbaum, unter dem sich das Königsgrab befand, wird nach mehr als achthundert Jahren gewiss nicht mehr existieren. Aber die Angaben sind genau genug, um den Platz wiederzufinden.«
»Ohne diese Beschreibung hätten wir das Grab niemals gefunden«, wandte Heinrich ein.
Zenon zuckte mit den Schultern. »Vielleicht gibt es dort noch eine Legende darüber. Solche Ereignisse geraten nicht einfach in Vergessenheit.« Er faltete die Hände über den fleckigen Pergamentseiten.
»Was bedeutete das griechische Wort, das an den Rand geschrieben war?«
»Es ist ein Name. Josephos … Es könnte eine Anspielung auf den Ziehvater des Heilands sein. Es gab auch einen judäischen Historiker mit diesem Namen. Wer weiß, wer diese
Notiz gemacht hat und was sie bedeuten soll. Doch wir haben nun endlich alles, was wir brauchen, um den dritten König zu finden. Es ist wie ein Wunder! Gott sei gepriesen, dass derjenige, der diese Seiten einst aus der Vita der Helena herausgerissen hat, ein geiziger Mann gewesen ist und das Pergament nicht einfach vernichten wollte! Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, noch eine der ursprünglichen Fassungen ihrer Heiligengeschichte zu finden.«
Durch das offene Fenster neben dem Lesepult erklang das pochende Klagen des Semantrons, jenes Holzbrettes, das mit einem hölzernen Hammer geschlagen wurde, um die Mönche zum Gebet zu rufen.
Zenon lächelte. »Weißt du was, Heinrich? Nach dem Abendgebet werden wir hinaus zu Demetrios gehen. Wir müssen den anderen die frohe Nachricht bringen. Und wir sollten feiern! Soweit ich weiß, haben unsere beiden Ritter den Pilgern, die in der letzten Woche zu Gast waren, einen kleinen Vorrat an Wein abgeschwatzt. Vielleicht ist ja noch etwas übrig.«
»Komm mit, Heinrich, und du wirst in dieser Nacht ein Wunder Gottes erleben.« Zenon sprach langsam, als müsse seine Zunge erst jedes einzelne Wort in der fremden Sprache schmecken, so wie man vorsichtig von einer neuen Speise kostet. Der Mönch hatte bei dem Zechgelage unter den Zypressen vor Demetrios’ Hütte kaum weniger getrunken als die drei Ritter, doch im Gegensatz zu Anno und Ludwig war er nicht zufrieden lächelnd eingeschlafen.
»Ein Wunder?«, fragte Heinrich zögernd.
»Na, komm schon! Der erste Schritt zu einem Wunder ist der Glaube. Du wirst schon sehen.«
Etwas unsicher erhob sich Heinrich. »Wohin gehen wir?«
Zenon deutete zu den zerklüfteten Felsen östlich des Klosters. »Dort oben gibt es einen Garten, den Demetrios pflegt. Der Mönch behauptet, dass er wunderschön ist.«
Die Aussicht, im Mondlicht den Berg hinaufzuklettern, behagte Heinrich nicht sonderlich. Außerdem war es recht
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