Koenigin der Meere - Roman
gegen Mittag besser. Doch am folgenden Morgen war ihr elend wie am Tag zuvor.
-24-
I ch kann dir sagen, was mit dir los ist.« Mary sah Anne tief in die Augen.
»Ach ja, bist du über Nacht Ärztin geworden?«, fragte Anne, die in den letzten drei Monaten erheblich abgenommen hatte, und fuhr sich mit einem feuchten Lappen über das verschwitzte Gesicht. Das morgendliche Erbrechen quälte sie noch immer, sie fühlte sich schlapp und elend.
»Du bist schwanger«, diagnostizierte Mary und duckte sich gerade noch rechtzeitig, um den nassen Lappen nicht abzubekommen, den Anne in ihre Richtung schleuderte.
»Du bist wohl nicht ganz richtig im Kopf, was hat denn meine Kotzerei mit einer Schwangerschaft zu tun?« Anne tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
»Das fragst du doch nicht im Ernst, oder? Das weiß doch jeder, dass den meisten Frauen am Anfang schlecht ist.« Mary sprach mit solcher Bestimmtheit, dass Anne bange wurde.
»Was für ein furchtbarer Gedanke! Ich kann doch hier nicht mit einem dicken Bauch rumlaufen, geschweige denn ein Kind zur Welt bringen. Und ich kann doch auch nicht mit einem Kind herumsegeln und Schiffe kapern.« Anne brach in Tränen aus. »Ich will kein Kind! Ich kann dieses Kind nicht kriegen!«
Mary nahm sie tröstend in die Arme.
»Ich brauche ja wohl nicht zu fragen, wer der Vater ist. Am besten ist, wenn du erst mal mit ihm sprichst. Vielleicht fällt ihm etwas ein.«
Der Tag verging in Zeitlupe. Sosehr Anne nach einer Möglichkeit
suchte, mit Calico Jack zu sprechen, erst tief in der Nacht, als alle schliefen, gelang es ihr, sich in seine Kajüte zu schleichen.
»Bist du sicher?« Rackham sah sie entsetzt an.
»Wie kann ich sicher sein, ich habe noch nie ein Kind bekommen, aber Mary kennt sich da aus, und sie meint, dass es an nichts anderem liegen kann. Sie sagt auch, dass das eine Erklärung dafür ist, dass mein Busen in letzter Zeit größer geworden ist. Ich habe mich schon gewundert.« Sie sah missmutig auf ihre Brüste. Calico lachte.
»Das gefällt mir ganz gut.«
»Du sollst mich nicht verspotten. Sag mir lieber, was ich jetzt tun soll!« Unglücklich legte sie die Hände auf ihren noch flachen Bauch.
»Ich meine, wenn ich wirklich ein Kind erwarte, dann ist es nur eine Frage der Zeit, und ich habe einen Bauch, der sich nicht mehr verstecken lässt. Es muss etwas geschehen. Oder willst du der Mannschaft erklären, dass du wie durch ein Wunder den Piraten Bonny geschwängert hast?« Calico zog sie an sich.
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Ich glaube, Champagner hilft. Die Luftblasen sind nicht gut für Schwangerschaften, heißt es. Das Dumme ist nur, dass wir keinen Champagner an Bord haben, und ob es uns in den nächsten Tagen gelingt, einen Franzosen zu kapern, der ausgerechnet Schaumwein geladen hat …?«
»Und die zweite Möglichkeit?«, fragte Anne hoffnungsvoll.
»Ich bringe dich nach Havanna. Dort lebt Grandma Del. Sie hat mich aufgezogen. Du kannst dich bei ihr verstecken, bis das Kind auf der Welt ist. Ich gebe Grandma Del Geld, damit sie sich um das Kind kümmert, und du kannst wieder auf die Juliana kommen.«
Einen Monat später, Anne fühlte sich wesentlich besser, nahm das Schiff Kurs auf Kuba.
Anne staunte über die vielen spanischen Schiffe im Hafen von Havanna.
»Wenn sie hier im Hafen nicht so gut bewacht wären, wäre das ein Paradies für uns. Diese Schiffe kommen fast alle aus Mexiko und Peru und sind so schwer mit Gold und anderen Kostbarkeiten beladen, dass sie fast keinen Ballast brauchen. Sie machen hier Zwischenstation, bevor sie nach Spanien auslaufen«, klärte Rackham sie auf und fügte
schmunzelnd hinzu: »Während du bei Grandma Del bist, werde ich mich ein bisschen um die Frachten kümmern!«
Havanna, 1515 auf sumpfigem Gebiet gegründet und vier Jahre später an den Hafen verlegt, war seit 1607 die Hauptstadt Kubas. Zwei mächtige Forts am Hafen boten Schutz für die ein- und auslaufenden Schiffe, ein drittes lag auf einem Hügel oberhalb der Stadt.
Anne hatte einen so großen Ort noch nie gesehen. Am Hafen herrschte ein Gewimmel, das alles übertraf, was sie aus Nassau, Jamaika und Charleston in Erinnerung hatte. Überall roch es nach Tabak, mit dem die kubanischen Kaufleute handelten.
Zu gerne hätte Anne Rackham an Land begleitet, doch der Plan, den sie gemeinsam geschmiedet hatten, sah etwas anderes vor. Seit einigen Tagen hatte Anne ihre Hängematte kaum verlassen und vorgegeben, so schwach zu sein, dass sie
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