Koenigin der Meere - Roman
Kreis.
»Schsch! Miss Anne, nicht so laut! Das Leder hat Kabelo besorgt, und ich habe die Hose daraus genäht. Das Hemd ist von deinem Vater, deine Mummy hat es mir gegeben, damit ich etwas für Jubilo nähe, aber ich habe es so geändert, dass es dir passt. Und wie gut es dir steht.«
»Das ist mein schönstes Geburtstagsgeschenk. Ich muss mich bei Kabelo bedanken!« Phibbah schüttelte den Kopf.
»Heute nicht mehr, Miss Anne, es ist schon spät, du musst schlafen. Es reicht, wenn du ihm morgen sagst, dass du dich gefreut hast.« Sie schob Anne sanft zum Bett.
»Und vor allem, zieh dein Nachthemd wieder an und versteck die Sachen. Ich glaube nicht, dass deine Eltern oder Miss Holy sie sehen sollten.« Anne gehorchte. Sorgfältig legte sie Hemd und Hose zusammen und verstaute sie unter ihrer Matratze.
Kabelo hatte das weich gegerbte Ziegenleder von Bojo bekommen. Die Indianerfamilie hatte das rotlockige Mädchen mit der weißen Haut im Laufe der vergangenen Sommer lieb gewonnen. Wann immer es seine Zeit erlaubte, war Kabelo mit Anne zu der verborgenen Lichtung gegangen. Den Eltern sagten die beiden Verschwörer jedes Mal, sie würden einen kleinen Reitausflug unternehmen. William kümmerte es nicht, und Margaret sah, dass die körperliche Ertüchtigung ihrer temperamentvollen Tochter guttat.
»Es ist das Schönste in meinem Leben«, sagte Anne, wenn sie am späten Nachmittag aufbrechen musste, und sah Kabelo treuherzig an.
»Wenn ich weiß, dass ich immer wieder hierher darf, halte ich auch die lang weiligen Stunden bei Miss Holy aus.«
Kabelo grinste. Wie einfach es war, ein Kind glücklich zu machen. Voller Wehmut dachte er an seine beiden Söhne. Drei und vier waren sie gewesen, als Menschenräuber ihn gefangen und verschleppt hatten. Inzwischen waren die beiden längst erwachsen und hatten vermutlich schon eigene Familien. Annes Zuneigung entschädigte ihn ein wenig für das, was ihm das Schicksal genommen hatte. Sie war ein halber Junge. Als hätte sie nie etwas anderes getan, schwang sie sich mit Comomo und Guaini von dicken Lianen, die von den Sumpfzypressen herunterhingen, in den kleinen Weiher. Im Umgang mit Zebrony war sie inzwischen so sicher, als wäre sie auf einem Pferderücken geboren, ritt ohne Sattel und galoppierte auf dem Rist des Pferdes mit weit ausgebreiteten Armen und wehenden Haaren laut juchzend über die Lichtung. Sie bettelte und bat so lange, bis Bojo ihr zeigte, wie man mit Pfeil und Bogen umging. Von Guaini und ihrer Mutter ließ sie sich im Flechten von Hängematten und Knüpfen von Perlenketten unterweisen. Letzteres gab Anne jedoch schnell wieder auf.
»Bitte nicht böse sein, aber das ist genauso ein Gefummel wie Miss Holys Stickereien, ich übe lieber noch ein wenig schießen.« Guaini sah die Freundin verständnislos an. Sie trug vier verschiedenfarbige Seidenbänder in ihrem lackschwarzen Haar, die Anne zu Hause als verloren gemeldet hatte.
»Aber du bist doch ein Mädchen, und Mädchen müssen knüpfen können«, wandte die kleine Indianerin zaghaft ein.
»Bei uns müssen sie sticken und häkeln, das ist schlimm genug«, gab Anne zurück.
Kaum war am nächsten Morgen die Sonne aufgegangen, rannte Anne zu Kabelo, der an der Pumpe stand und Wasser für Margarets geliebte Pflanzen in schwere Eimer füllte. Sie umarmte ihn.
»Kabelo, es ist das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe. Ich danke dir dafür. Das Leder ist so weich, als wäre es eine zweite Haut!« Kabelo entblößte seine spitzen Zähne.
»Miss Anne, du weißt, dass wir auch das als ein Geheimnis bewahren müssen, nicht wahr? Wenn jemand davon erfährt, wird man mich
fragen, wo ich das Leder herhabe, und dann können wir nicht mehr zur Lichtung.«
»Niemals! Ich schwöre es dir! Niemals wird jemand etwas davon erfahren!« Anne hob die Hand zum Schwur.
»Wann gehen wir zurück auf die Lichtung? Comomo wird erblassen vor Neid, wenn er sieht, wie ich in Hosen reite!« Bevor Kabelo antworten konnte, stand Jubilo vor ihnen.
»Anne, Misses Cormac sucht dich, du sollst zum Frühstück kommen.« Anne nahm den kleinen Jungen bei der Hand, zwinkerte Kabelo verschwörerisch zu und stapfte zum Haus.
Beide Eltern saßen schon am Tisch und erwarteten sie. Margaret schob ihrer Tochter einen Stapel kleiner Karten aus zartgelbem Papier zu.
»Ich habe mit Mr. Fidget gesprochen, er wird heute nur zwei Stunden Unterricht halten, und danach möchte ich, dass du Dankesbilletts schreibst. Du hast so viele
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