Koenigin der Meere - Roman
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An einem Nachmittag im Mai war es soweit. Anne hatte Mr. Fidgets Lektionen mit Bravour absolviert, eine aufwändige Stickerei zu Miss Holys Zufriedenheit beendet und war frei. Cormac hatte eine Besprechung mit seinen Aufsehern, würde also vor dem Abend nicht von den Feldern zurück sein, und Margaret lag wie so häufig in ihrem abgedunkelten Zimmer und ließ sich von Phibbah die Stirn kühlen. So schnell ihre kleinen Füße sie trugen, lief Anne zu Kabelos Hütte.
»Kabelo, du kannst alle fragen, ich war sehr brav, bin nie weggelaufen und habe alles gemacht, was man von mir verlangt hat. Du hast gesagt Frühling! Und jetzt ist Mai, der Frühling ist schon fast vorbei. Wann?« Sie stemmte ihre Hände in die Hüften.
»Jetzt«, entgegnete Kabelo und stand auf. Nach der Rückkehr auf
die Plantage hatte er Bojo mehrere Besuche abgestattet und sich vergewissert, dass von den Indianern keine Gefahr ausging. Zebrony war mit zwei Handgriffen gesattelt. Kabelo hob Anne auf den Rücken des Pferdes und ergriff die Zügel. Durch das Küchenfenster sah Tilly, wie die beiden hinter dem Haus verschwanden, und verzog das Gesicht. Ein Leben hatten diese Sklaven, so was gab es in keiner anderen Familie. Die Köchin schüttelte den Kopf.
Bojos Kinder, Guaini und Comomo, erkannten Kabelo schon von weitem und liefen ihm entgegen. Neugierig beäugten sie das fremde Mädchen. Anne glitt vom Pferd, machte einen höflichen Knicks, an dem auch Miss Holy nichts auszusetzen gehabt hätte, und streckte ihnen die Hand entgegen. Statt sie zu schütteln, warfen sich die Kinder bäuchlings auf den Boden und verharrten so lange in dieser Stellung, bis Kabelo sie aufhob.
»Das ist ihre Art, Freunde zu begrüßen«, erklärte er der verdutzten Anne. Während der achtjährige Comomo fachmännisch Zebrony begutachtete, starrte seine jüngere Schwester Anne an, als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern. Zaghaft betastete sie den rosa Damast ihres Kleides und befühlte ungläubig das weiße Satinband, mit dem Phibbah Annes Locken am Morgen gebändigt hatte. Anne kicherte und sah Kabelo fragend an.
»Haben sie noch nie ein anderes Kind gesehen?« Er schüttelte den Kopf.
»Nein, Miss Anne, die beiden sind hier auf der Lichtung geboren und kennen nichts anderes als den Wald, die Wiesen und den Fluss.«
»Ich kenne Irland, Charleston und die Plantage«, triumphierte Anne. Kabelo nickte.
»Ja, ihr könnt viel voneinander lernen.«
Bojo war auf der Jagd. Seine Frau Potomai bot den Gästen frisches Wasser an. Anne betrachtete bewundernd ihre Fesseln. Über Halbstiefeln aus Baumwolle trug die Indianerin ihre goldenen Manschetten, die mit üppigen Mustern verziert waren. Potomai sah ihren Blick.
»Gefallen sie dir?« Anne nickte heftig.
»Diesen Schmuck bekommen alle Indianerinnen, wenn sie heiraten. Bojo hat ihn für mich gemacht.« Potomai schaute auf das Feuer.
»Die Glut ist heiß genug, gleich können wir etwas essen.«
Als sie etwa eine Stunde später aufbrachen, war Anne überzeugt, in ihrem Leben nichts Köstlicheres als die auf Stöcke gespießten und gegrillten Kochbananen gegessen zu haben.«
»Kabelo, das ist die schönste Überraschung, die ich je hatte. Schöner als Geburtstag und schöner als Weihnachten. Können wir morgen wieder da hin?«, fragte sie, als das Haus schon in Sichtweite war. Kabelo schüttelte den Kopf.
»Nein, Miss Anne, aber wenn es unser Geheimnis bleibt und du brav bist und gehorchst, nehme ich dich noch einmal mit.«
Anne schwor mit erhobener Hand, dass sie von nun an noch folgsamer sein und alles tun würde, was Kabelo von ihr verlangte, wenn er sie nur wieder mit auf die Lichtung nahm.
»Vor allem darfst du mich nicht jeden Tag fragen, wann wir gehen, Miss Anne. Es ist ein Geheimnis, und das bleibt es nur, wenn wir nicht jeden Tag darüber reden. Ich werde dir sagen, wenn es soweit ist.« Anne sah in seine schwarzen Augen und flüsterte verschwörerisch: »Aber denken darf ich daran, oder?«
Nach dem Besuch auf der Lichtung war Anne wie ausgewechselt. Ihr Lerneifer erstaunte sogar Mr. Fidget, und Miss Holy hatte keinerlei Klagen mehr.
»Prinzessin, was bist du nur für ein kluges, verständiges Mädchen geworden.« William Cormac lächelte voller Stolz. Anne entwand sich seiner Umarmung.
»Wann bringst du mir das Fechten bei?« Ihr Vater sah sie schuldbewusst an.
»Das hätte ich beinahe vergessen! Ich verspreche dir, dass wir nächste Woche eine Stunde finden, in der ich dir
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