Koenigin der Meere - Roman
etwa zehn anderen. Obwohl einem von ihnen bereits das Blut aus der Nase tropfte, dachte niemand daran, die beiden Schläger auseinanderzubringen. Anne marschierte mit festen Schritten weiter.
Aus einem kleinen Holzhaus kam eine üppige Schwarze, die ihr Dekolleté zurechtzupfte, zielstrebig auf einen hageren Seemann zuging und ihm auffordernd ihre Brüste entgegenstreckte; kurz darauf verschwand das ungleiche Paar in dem Häuschen.
Was sie sah, war fremd und verboten, aber noch nicht das, wonach sie suchte. Anne ging weiter. Auf beiden Seiten der Gasse lag eine Kneipe neben der anderen. Aus allen tönten laute Stimmen und Musik. Anne warf im Vorbeigehen vorsichtige Blicke durch die offenen Türen. Die vielen Männer, der Geruch nach Alkohol, das kreischende Gelächter der Mädchen und Frauen mit den tiefen Ausschnitten machten ihr Angst.
Anne war am Ende der kleinen Gasse, ohne auch nur einen Freibeuter in bunter Aufmachung gesehen zu haben. Sie folgte dem staubigen Weg und bog um eine Ecke. Auch hier befanden sich Tavernen,
aus denen der gleiche Lärm wie zuvor drang. Auf dem Boden lag ein rotes Kopftuch. Anne steckte es als Souvenir ein. Sie schlich an eine angelehnte Holztür und spähte vorsichtig durch den Spalt. Ihr Herz machte einen Purzelbaum. Sie schlug die Hände vor den Mund.
Da saßen sie. Mindestens fünfzehn Männer. Weiße, Schwarze und Mulatten, bunt kostümiert, mit schwerem Schmuck behangen, und mitten unter ihnen der Mann, den sie bei ihrem Vater im Arbeitszimmer gesehen hatte. Anne schlich um das Haus herum und schmiegte sich unter ein kleines Fenster an der Rückseite. Unter dem lauten Gelächter seiner Zuhörer erzählte jemand von einer gefährlichen Jagd auf ein anderes Schiff.
»Und dann sind wir aus der Takelage direkt auf Deck gesprungen und haben ihnen die Pistolen unter die Nase gehalten. Einfach nur hingehalten, keinen einzigen Schuss abgegeben. Die verdammten Franzmänner haben sich fast in die Hosen geschissen und uns alles gegeben, was wir haben wollten. Der Wein war so gut, den habe ich noch immer auf der Zunge.«
»Nicht nur auf der Zunge, wie mir scheint«, grölte ein anderer. »Du willst doch nicht sagen, dass ihr ein ganzes Schiff ohne einen Schuss in eure Gewalt gebracht habt.«
»Willst du damit sagen, dass ich lüge«, schrie der Erste, und Anne hörte etwas krachen. Sie erhob sich und warf einen Blick durch die schmierige Scheibe. In der Schankstube war ein heftiger Tumult losgebrochen. Stühle und Hocker flogen durch die Luft, auf einem der Tische stand ein grauhaariger Seebär und fuchtelte wild mit seinem Kurzschwert herum. In der linken Ecke des Raums stand der Wirt, sah sich das Durcheinander an und brüllte: »Freier Rum für alle, wenn ihr sofort aufhört, mir den Laden zu zerlegen!« So plötzlich wie sie begonnen hatte, hörte die Schlägerei wieder auf. Die Männer setzten sich und streckten dem Wirt ihre Becher entgegen.
Anne war fasziniert. Was für eine Welt. Der Schmuck, die farbenfrohe Kleidung. Ihr Zimmer, all ihre Parfümflakons, sogar ihr geliebtes Pony hätte sie in diesem Moment gegeben, um erwachsen und Teil dieser Gesellschaft zu sein. Sie sah zum Himmel. Von Bojo hatte sie gelernt, den Stand der Sonne zu lesen, und der sagte ihr, dass es
höchste Zeit war aufzubrechen. Geduckt verließ sie ihr Versteck und lief, so schnell sie ihre Beine trugen, nach Hause.
An der letzten Ecke hielt sie inne, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von Stirn und Schläfen, klopfte den Staub vom Saum ihres Kleides und versuchte, ihre Frisur wieder zu ordnen. Schließlich kam sie vom Tee bei Lorna Mary, und selbst ihre gutgläubige Mutter würde sich wundern, wenn sie völlig verschwitzt und mit schmutzigem Kleid erschien.
Bis jetzt war alles nach Plan verlaufen. Noch ein paar Meter, und niemand würde merken, wo sie gewesen war. Anne nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit wieder zum Tee zu Lorna Mary zu gehen, und lachte. In diesem Moment fühlte sie einen festen Griff im Genick, sah die Vorderbeine eines Pferdes und fühlte, wie sich der Reiter herabbeugte, ihre Taille umfasste und sie vor sich in den Sattel hob.
»Du wirst mir sicher gleich sagen, was du um diese Zeit allein auf der Straße machst, wo du herkommst und was es zu lachen gibt.« Die Stimme ihres Vaters war heiser vor Zorn.
»Ich war bei Lorna Mary Hoover zum Tee und bin gerade auf dem Weg nach Hause«, versuchte sich Anne aus der Affäre zu ziehen. Ihr Vater lockerte seinen Griff
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