Koenigin der Meere - Roman
Tinte schlich sie in ihr Zimmer und kramte ein sauberes Stück Papier aus einer Schachtel. Den Federkiel in der linken Hand, schrieb sie mit verstellter Schrift.
»Liebe Anne, vielen Dank für dein Billett. Dein Geburtstag war sehr schön, ich würde dich gerne am Freitagnachmittag zum Tee einladen. Deine Lorna Mary Hoover.« Sie faltete den Zettel, steckte ihn in ein Kuvert und schob es unter ihre Matratze.
»Siehst du, wie wichtig es ist, dass man sich bedankt.« Margaret lächelte erfreut, als Anne ihr den Umschlag zwei Tage später präsentierte.
»Und diese Lorna Mary Hoover ist wirklich ein reizendes Mädchen. Endlich hast du eine Freundin gefunden, mit der du dir die Wintermonate in der Stadt vertreiben kannst.«
»Und vor allem wohnt sie so nah, dass ich allein zu ihr gehen kann und mich niemand bringen oder abholen muss.« Anne wunderte sich, wie leicht ihr die Worte über die Lippen kamen. Niemals würde sie sich mit dieser langweiligen Lorna Mary treffen. Das Mädchen roch nach Schweiß und hatte Pickel auf der Stirn. Sie hatte ihren Namen nur gewählt, weil sie in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnte.
Am Freitag war Anne so aufgeregt, dass es ihr schwerfiel, ihre Unruhe
vor Mr. Fidget zu verbergen. Endlich war der Unterricht vorüber. Anne aß mit ihrer Mutter und Miss Holy zu Mittag und brachte kaum einen Bissen hinunter.
»Nun stochere doch nicht so in deinem Essen herum. Der Herr hat den Reis nicht gedeihen lassen, damit du ihn von der einen Tellerhälfte zur anderen schiebst«, mahnte die Gouvernante, aber Margaret, die sonst immer auf Miss Holys Seite stand, nahm ihre Tochter in Schutz.
»Es ist die Nervosität. Ich kenne das von mir. Wenn ich mich sehr auf etwas freue, ist mir der Hals auch wie zugeschnürt. Sag Phibbah, sie soll dir helfen, und mach dich fertig für deinen Besuch.«
Zwanzig Minuten später stand Anne mit frisch frisierten Haaren in einem hellblauen Baumwollkleid mit dunklen Paspeln vor ihrer Mutter. Margaret spuckte auf ihr Spitzentaschentuch und rieb Annes Wangen; die drehte angewidert den Kopf zur Seite. Ihre Mutter folgte der Bewegung mit dem Tuch.
»So wirkt dein Teint etwas frischer. Wer weiß, wem du bei Lorna Mary begegnest. Ich möchte, dass du einen guten Eindruck machst.«
Anne musste all ihre Selbstbeherrschung aufbringen, um das Haus mit angemessenen Schritten zu verlassen und die Tür langsam und leise zu schließen.
»Und dass du vor Anbruch der Dunkelheit zurück bist!«, rief Margaret hinter ihr her. Anne winkte ihr und ging, wie es sich für eine Tochter aus gutem Hause gehörte, artig auf der rechten Seite der Straße in Richtung Lorna Marys Haus.
Kaum wusste sie sich außer Sichtweite, bog sie ab und rannte hinunter zum Hafen. Sie kannte den Weg, denn von Zeit zu Zeit hatte ihr Vater sie im Zweispänner mitgenommen, wenn er in sein Lagerhaus fuhr. Mit dem Wagen war es allerdings bequemer und wesentlich schneller. Anne blieb stehen und schnappte nach Luft.
Ihr Puls beruhigte sich nur ganz allmählich, als sie die Segel der großen Kauffahrer sah, die im Hafen von Charleston vor Anker lagen. Mächtige Schiffe mit imposanten Galionsfiguren, Masten so hoch, dass sie bis in den Himmel zu reichen schienen, Flaggen in allen Farben. Anne konnte kaum den Blick abwenden. Sie sah sich um. Links
von dem Platz, auf dem die Auktionen stattfanden, gingen drei Gassen ab, die sie noch nie betreten hatte. Das Lagerhaus ihres Vaters stand, etwas versetzt, rechts gegenüber.
»Das ist nichts für ein junges Mädchen. Dort vertrinken die Matrosen ihre Heuer. Unsereins hat da nichts zu suchen«, hatte Cormac die Fragen seiner Tochter beantwortet. Anne war sicher, dass in diesen Gassen nicht nur die Matrosen ihren Lohn in die Tavernen trugen. Dort waren sicher auch die Kaperer zu finden, die regelmäßig in den Charlestoner Hafen einliefen, um den Bürgern ihre Waren anzubieten. Längst hatte sie mitbekommen, dass alle Leute in der Stadt, auch die angesehensten Geschäftsleute wie ihr Vater, bis hinauf zum Gouverneur die Freibeuter empfingen und gerne mit ihnen handelten. Anne nahm all ihren Mut zusammen und betrat die erste der drei Gassen. Gleich am Anfang stand ein großes Rumfass vor einer schmutzigen Spelunke. Der Wirt schenkte gerade einem betrunkenen Matrosen nach, der bedenklich schwankte, den Becher aber in einem Zug leerte. Anne drückte sich an den beiden vorbei. Keine fünf Meter weiter prügelten sich zwei junge Männer unter den lauten Anfeuerungsrufen von
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