Königin der Schwerter
Welch ein närrischer Satz. Aideen hätte sich dafür ohrfeigen können.
»Fürchtest du dich?« Die Wärme in Hákons Sti m me berührte sie.
»Nein«, sagte sie ehrlich. »Ich kenne den Hoc h landnebel. Er hat mich mein Leben lang begleitet. Aber ich mag ihn nicht. Er kündet von Herbst, Du n kelheit und Kälte. Nicht von Frühling und Sommer.«
»Wie ist es, bei den Hüterinnen zu leben?«, wol l te Hákon wissen.
»Frage lieber, wie es war.« Bitternis schwang in A i deens Stimme mit. »Die guten Zeiten gehören der Vergangenheit an. Es wird nie wieder so werden wie vor der Anrufung.«
»Das tut mir leid.«
»Muss es nicht.«
»Warum nicht?«
»Wie lebten zwar zufrieden, aber nur, weil wir es nicht anders kannten.« Je länger Aideen sprach, de s to mehr verlor sie ihre Scheu. Ihr war, als kenne sie Hákon schon ewig. »Jetzt, da ich das Waldland ges e hen habe und den Menschen begegnet bin, die dort leben, weiß ich, worum man uns betrogen hat«, fuhr sie fort. »Wir hielten uns für Auserwählte, in Wir k lichkeit aber waren wir Gefangene.«
»Ihr wart eine Gemeinschaft. Eine große Familie. Und ihr hattet ein gemeinsames Ziel, das euch z u sammenhielt.«
»Familie …« Aideen schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht einmal, was das ist.«
»Aber deine Mutter …«
»Ich kenne meine Mutter nicht.« Die Antwort war eine Spur zu hart. Aideen konnte förmlich sp ü ren, wie Hákon bei ihren Worten zusammenzuckte.
»Entschuldige, das … das wusste ich nicht«, sagte er betroffen.
»Ach was. Das ist nicht schlimm.« Aideen bemü h te sich um einen lockeren Tonfall. »Keine Hüt e rin kennt ihre Mutter. Ich war also in guter Gesel l schaft.«
»Keine?« Hákon schaute Aideen stirnrunzelnd an. »Wie ist das möglich?«
»Willst du es wirklich wissen?«, fragte Aideen. Hákon nickte.
»Wir Hüterinnen sind angeblich alle Findelki n der, die von ihren Eltern im Wald ausgesetzt wu r den«, hob Aideen mit klopfendem Herzen an, »aber das stimmt nicht. Ich habe gesehen, wie es bei mir war. In meinen Träumen. Zuerst habe ich es nicht verstanden, aber dann wurden mir die Augen geöf f net. Ich habe lange darüber nachgedacht und ve r sucht, es zu ergründen. Jetzt weiß ich, dass es kein Traum war. Es waren me i ne eigenen Erinnerungen, die einzigen, die ich noch an meine Kindheit jenseits des Hochlands besitze. Wir sind nicht ausgesetzt worden, wir wurden entführt. Die Dashken haben uns unseren Müttern entrissen, damit wir Zarife dienen …« Bitternis ließ sie ve r stummen.
»Die Dashken, sagst du?« Neugier schwang in Hákons Worten mit. Offensichtlich war es ihr gelu n gen, sein Interesse zu wecken. Für einen Auge n blick hatte sie das Gefühl, dass er ihr eine Frage stellen wol l te, doch dann schien es, als verlasse ihn der Mut, und er schwieg.
Auch Aideen schwieg, Sie spürte, dass jetzt der rechte Augenblick für ihre Fragen war, aber sie war immer noch gehemmt. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte: »Hast du eine Familie?«
»Natürlich.« Hákon nickte. »Mein Vater starb, als ich noch sehr klein war, aber ich habe noch meine Mutter und Gor, meinen Bruder. Ich habe auch eine Schwester, Viliana, aber kann mich nicht an sie eri n nern, denn sie verließ uns schon sehr früh.« Er ve r stummte und starrte schweigend in den Nebel hinaus.
Viliana . Aideen zuckte zusammen. Eine heiße W o ge flutete durch ihren Körper. Sie spürte, dass sie den Zipfel einer Erinnerung zu fassen bekam, die seit Jah r zehnten in ihr schlummerte, und tatsächlich stellte sich auch die Vision aus ihrer Kindheit wieder ein …
Da war Sonnenlicht, das golden durch die Baumkr o nen flutete. Blätter, die sich im Wind bewegten. Kinde r lachen und Frauenstimmen, die entzückte Laute von sich gaben.
Dann kam der Schatten, der sich jäh vor den funkel n den Himmel schob. Das Kinderlachen erstarb.
»Dashken!«, rief jemand, und die Frauen schrien auf.
»Viliana! Nein! Bei den Göttern, das dürft ihr nicht!«
Finster und bedrohlich senkte sich der Schatten herab. Hände griffen nach ihr, hoben sie auf und trugen sie fort, während das Weinen der Kinder und die Schreie der Frauen immer weiter hinter ihr z u rückblieben. »Viliana! Viliana!«
»Du zitterst.« Hákon legte fürsorglich den Arm um sie. »Verzeih, ich wollte dich nicht traurig m a chen.«
Aideen stockte der Atem, als sie seine Nähe so u n mittelbar spürte. Er ist es, dachte sie erscha u dernd. Er ist wirklich mein Bruder. Langsam
Weitere Kostenlose Bücher