Königin der Schwerter
können. Ihr wurde der Dolch anvertraut, auf dass sie ihn hüte und beschütze, bis die Raben sprächen und die Pr o phezeiung sich erfüllte. Man schickte sie ins Wal d land, wo sie fortan leben sollte, bis die Zeit geko m men war, da sie mit dem Dolch zurückkehren kon n te.« Ulama verstummte erneut.
»Diese … diese Frau«, warf Tisea mit vor Aufr e gung geröteten Wangen ein. »War sie …?«
»Ja.« Ulama nickte, noch bevor Tisea die Frage zur Gänze gestellt hatte. »Du vermutest richtig. Diese ju n ge Frau war meine Ahnin. Sie nahm den Dolch an sich und verließ die Gemeinschaft der Hüteri n nen, um hier im Waldland ein neues Leben zu b e ginnen. Seitdem wird der Dolch unter den Frauen meiner Sippe we i tergegeben, welche die Gabe des Sehens von unserer Ahnin geerbt haben. Von der Mutter auf die Tochter, bis zu jenem Tag, an dem der Ruf uns erreicht und die Prophezeiung sich e r füllt. Das Versprechen, das meine Ahnin den Hüt e rinnen einst gab, bindet uns auch heute noch. Wenn die Raben sprechen, müssen wir unverzüglich au f brechen und den geweihten Dolch zurück ins Hoc h land bringen, damit Zarife in ihren Körper zurüc k kehren kann.«
»Heißt das, die … die Raben haben gesprochen?« Tisea flüsterte nun.
»Ja, das heißt es.« Etwas Endgültiges lag in di e sen Worten. Bitternis und Hoffnung, Verlust und Neub e ginn, all das und noch viel mehr. Zu viel, als dass eine Siebzehnjährige es hätte verstehen können.
»Bitte, erzähl mir mehr davon.« Tisea bemerkte, dass sie vor Aufregung zitterte.
»Gestern Nacht«, antwortete Ulama schließlich, »habe ich im Traum den Weißen Tempel gesehen. Wie ein Vogel flog ich darüber hinweg. Die Wände strahlten wie das Gefieder eines Schwans, und die go l dene Kuppel des Heiligtums warf das Sonne n licht in tausend Strahlen zurück. Ich begann zu kreisen. I m mer höher und höher stieg ich hinauf, und schließlich bemerkte ich, dass ich nicht mehr allein war. Raben hatten sich mir angeschlossen, sie krächzten, aber dann, ganz plötzlich, verstand ich, was sie sagten. ›Macht euch bereit!‹, riefen sie sich zu. ›Macht euch bereit! Die wahre Herrscherin von Benize wird aus ihrem Schlaf erwachen. Die Zeit, die Zeit ist geko m men.‹.« Ulama verstummte und starrte in die Fla m men, als könne sie die Bilder des Traums im Geiste noch einmal heraufbeschwören. Dann seufzte sie und richtete den Blick wieder auf Tisea. »Als ich erwachte, wusste ich, dass es das Zeichen war, auf das die Hüt e rinnen schon so lange warten«, sagte sie fast ein wenig wehmütig. »Es ist so weit, der Dolch muss ins Hoc h land zurückke h ren.«
»Wo ist er jetzt?«, wollte Tisea wissen. Ihr Herz pochte heftig. Abenteuerlust und Furcht, Sorge und Zuversicht wechselten in rascher Folge, und es war längst nicht entschieden, welches Gefühl am Ende die Oberhand gewinnen würde.
Ulama antwortete nicht, aber ihr Blick sagte mehr als alle Worte. »Er ist hier«, folgerte Tisea. »Hier in der Hütte.«
»Ja, ja, das ist er.« Ulama nickte bedächtig. »Ich bin die Hüterin des Dolches, so wie vor mir schon meine Mutter, die Mutter meiner Mutter und jene, die vor ihnen waren.« Sie streckte die knochigen Hände aus, um sie am Feuer zu wärmen. »Ich habe gewartet. All die Jahre lang. O ja, das habe ich«, sagte sie mit einem Anflug von Trauer in der Sti m me. »In meiner Jugend träumte ich fast jede Nacht davon, den Dolch ins Hochland zu tragen. Hätte das Zeichen mich damals erreicht, ich wäre ohne zu z ö gern aufgebrochen. Jetzt aber sind meine Knochen zu alt für eine so lange und beschwerliche Reise. Der Winter steht vor der Tür, die Schneewölfe aus dem Norden ziehen nach Süden und machen den Weg gefährlich.« Sie hob den Kopf und bedachte Tisea mit einem langen Blick aus altersbli n den A u gen. »Ich habe dich beobachtet, Tisea, Allvars Toc h ter«, sagte sie ernst. »Du bist jung und tatkräftig und verehrst die Priesterinnen des alten Glaubens wie keine andere hier. Dein Pflichtbewusstsein sucht se i nesgleichen. Ohne zu klagen trägst du die Last, die das Schicksal dir aufbürdete. Deshalb habe ich schon vor Monaten beschlossen, dass du an meiner Statt in den Norden reisen wirst, wenn der Ruf mich ereilen sollte, um den Hüterinnen, die dort wachen, den Dolch zu überbringen.«
Tisea schwieg. Überwältigt von dem Ungeheuerl i chen, das Ulama ihr auftrug, fühlte sie sich außersta n de, sofort eine Entscheidung zu treffen. Sie hatte die Wälder ihrer
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