Königin der Schwerter
durch die Klinge in den Körper jener Priesterin übe r gehen, die den Dolch in den Händen hielt. So erlangte diese übernatürliche Kräfte, die sie zum Wohle Benizes nutzte. Blieb der Regen aus, erhielt sie eine Botschaft, wo noch Wa s ser zu finden war. Zog ein mächtiger Sturm auf, führte der Dolch seine Trägerin im Geiste an einen sicheren Ort, den sie gemeinsam mit den Priesterinnen, ihren Arbeitern und Getreuen aufsuc h te. Blieb das Wild aus, zeigte der Dolch der H o hepriesterin, wo die Jägerinnen ihre Beute suchen mussten. Viel Gutes hatten die Priesterinnen dem Dolch zu ve r danken, doch darf man darüber nicht vergessen, dass er auch großes Unheil über Benize brachte.«
»Wie das?« Tisea lauschte gespannt. Sie hatte g e glaubt, alles über die Priesterinnen des alten Glaubens zu wissen. Was sie nun hörte, war so u n glaublich, dass es ihre Vorstellung vom Leben im Weißen Tempel gründlich durcheinanderwirbelte.
»Nun, auch die Priesterinnen und Novizinnen von damals waren nur Menschen.« Ulama bedachte T i sea mit einem Lächeln. »Die magischen Kräfte, die der Dolch verlieh, weckten bei vielen von ihnen Begeh r lichkeiten. Und nicht jeder vermochte der Ve r suchung zu widerstehen. Die alten Legenden beric h ten, dass eine begnadete Seherin sterben musste, weil ihre schwächere Rivalin hoffte, dadurch an d e ren Wissen zu gelangen. Eine junge Novizin tötete mit dem Dolch einen bestialischen Meuchler, der zuvor ihre Freundin erstochen hatte, und wurde d a durch selbst zu einer gefährlichen Bestie. Erst nac h dem sie drei ahnungslose Priesterinnen grausamst ermordet hatte, konnte man ihr das Handwerk legen. Das Schlimmste aber geschah nach Zarifes Tod, zu einer Zeit, da der Dolch bereits von den Hüterinnen im Hochland verwahrt wurde.« Ulama verstummte.
»Was ist geschehen?«, drängte Tisea voller Ne u gier.
»In den Jahren ihrer Herrschaft beanspruchte Z a rife den Dolch allein für sich, was als Hohepriesterin ihr gutes Recht war«, erzählte Ulama weiter. »Böse Zu n gen behaupten, sie habe seine Kräfte schändlich mis s braucht, um ihre Macht zu stärken. Doch dafür gibt es keine Beweise. Wir kennen nur den Auftrag, den sie ihren Getreuen gab, als sie spürte, dass sich ihre Zeit dem Ende zuneigte.«
»Wenn die Raben sprechen, müssen Herz und Dolch zusammenkommen, auf dass die Seele ihr Heim findet«, zitierte Tisea die letzte, unbekannte Strophe der Prophezeiung.
»Du hast die Worte nicht vergessen.« Ulama nickte Tisea wohlwollend zu. »Zarife gab den Hüt e rinnen den Auftrag, ihren Körper und den Dolch zu verwa h ren, bis sie eines Tages zurückkehren würde, um ihr altes Heim, wie ihre sterbliche Hülle in der Propheze i ung genannt wird, wieder zu beziehen. So gab es nach ihrem Tod niemanden mehr, der den Dolch für sich beanspruchte. Der Tempel war zerstört, die H o hepriesterin fort. Von den wenigen, die das grausame Mass a ker überlebt hatten, wagte es niemand, Zarifes Platz einzunehmen. Sie wandten sich von den Bluto p fern ab und schufen eine neue Ordnung. Fortan nan n ten sie sich die Hüterinnen des alten Glaubens und sahen ihre Aufgabe allein in der Bewahrung dessen, was Zarife ihnen hinterlassen hatte. Viele Jahrzehnte gingen ins Land, bis sich eine Novizin der magischen Kräfte des Dolches e r innerte. Sie war nicht besonders klug und hatte keine Talente. Aber sie war von kran k haftem Ehrgeiz getrieben und haderte mit dem Schic k sal, das sie so sträflich vernachlässigt hatte. Aus dem Hader wurde Wut, und schließlich erwuchs daraus ein Hass auf alle, die von Geburt an mit besonderen G a ben au s gestattet waren. Eines Nachts wurde dieser Hass übermächtig. Sie schlich sich ins Heiligtum, nahm den Dolch an sich und tötete in einer einzigen Nacht fast ein Dutzend Hüterinnen im Schlaf Au s nahmslos Frauen, die besondere Talente besaßen. Am Ende packte sie der Wahnsinn, und sie richtete sich selbst. Es war ein grausiger Anblick, der jene erwartete, die das Unglück überlebten, und ein großer Verlust für die Hüterinnen. Die Oberin entschied, dass es zu g e fährlich sei, den Dolch weiterhin in den Höhlen zu verwahren. Und so geschah etwas, das niemals z u vor geschehen war …« Ulama hustete und griff nach dem Wasserbecher. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wi e der beruhigte. Dann endlich fuhr sie fort: »Aus den Reihen der Hüterinnen wurde eine junge Frau ause r wählt, die für ihren Sanftmut und die G a be bekannt war, Visionen empfangen zu
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