Königin der Schwerter
hatten es sich die Männer, die hier Schutz suchten, angewöhnt, ihre dicke Kleidung auch am Tage nicht abzulegen.
Längst hatte der Winter, von Norden kommend, seinen eisigen Atem in die Berge getragen und die Welt jenseits der grünen Täler mit einem dicken Ma n tel aus Schnee bedeckt. Erst in der vergangenen Nacht hatte es wieder kräftig geschneit.
Während Bjarkar und die anderen auf der Jagd w a ren, hatte Jolfur an diesem Tag die Aufgabe übe r nommen, die Hütte und das Feuer zu bewachen, denn der Schnee lag so hoch, dass sie nicht vor dem späten Nachmittag zurück sein würden.
Umso mehr hatte es ihn überrascht, als seine Toc h ter und die Mutter seiner verstorbenen Frau, in deren Obhut er das Mädchen gegeben hatte, gegen Mittag in die Hütte getreten waren. Sie lebten in dem Dorf u n ten im Tal, das einst auch seine Heimat gewesen war, und hatten den beschwerlichen Au f stieg bisher nur im Sommer gewagt. Die beiden waren seit Sonnenau f gang unterwegs gewesen, halb erfroren und völlig e r schöpft, doch die Botschaft, die sie bei sich trugen, war so bedeutsam, dass er ihnen den Leichtsinn längst nachgesehen hatte.
»Sie kommt zurück. Nicht wahr, Vater?«, hörte er das Mädchen in seine Gedanken hinein sagen. In eine wollene Decke gehüllt, saß die Kleine nahe dem Ofen, nippte an einem Becher mit heißem Kräutertee und schaute ihn aus ihren großen nussbraunen A u gen an. »Die Hohepriesterin wird Karadek dafür bestrafen, was er Mutter angetan hat. Das wird sie doch – oder?«
»Ja, das wird sie.« Jolfur lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln. Sie wird ihrer Mutter immer ähnl i cher, dachte er bei sich und drängte die Trauer z u rück, die die Erinnerung an das, was für immer ve r loren war, in ihm weckte.
Er war nie ein Mann großer Worte gewesen. Sanftmütig und stets darauf bedacht, in Frieden zu leben, hatte er es widerspruchslos hingenommen, dass die Last, welche die Herrschenden in Torpak den Fronarbeitern aufbürdeten, immer erdrückender wu r de. Schweigend hatte er das Leben in Not und Elend ertragen, während die anderen Männer des Dorfes sich längst den Rebellen angeschlossen ha t ten und in die Berge gegangen waren. Ohne aufz u begehren, hatte er mit angesehen, wie die jungen und unverheirateten Männer des Dorfes für den Krieg gegen die Tamjiken zwangsrekrutiert worden waren, und selbst dann nicht die Stimme erhoben, als die Garde einige Monate sp ä ter gekommen war, um auch die halbwüchsigen Kn a ben zu holen. Böse Zungen hatten damals behauptet, er sei schwach und feige, doch der Eindruck war falsch. Bei allem, was er getan oder nicht getan hatte, hatte Jolfur immer nur ein Ziel im Auge gehabt: seine Familie zu schü t zen und zu überleben.
Er hatte überlebt. Seine Familie hatte er nicht schützen können. Noch heute kamen ihm die Tr ä nen, wenn er daran dachte, wie die Krieger der Ga r de eines Abends in sein Haus eingedrungen waren, seine schwangere Frau aus dem Bett gezerrt und sie der Aufwieglung beschuldigt hatten, weil sie die Legende von Zarife öffentlich erzählt hatte. Sie hatte geweint, gebettelt und um Gnade gefleht, aber die Krieger w a ren unerbittlich gewesen. Nur Minuten später war sie vor den Augen der herbeigerufenen Dorfbewohner hingerichtet worden, als Warnung für alle, die es drängte, die verbotenen Legenden we i terzugeben.
Wie immer, wenn er sich erinnerte, spürte Jolfur auch diesmal eine ohnmächtige Wut in sich aufste i gen, so heftig und verzehrend wie an jenem Abend, als er der Hinrichtung seiner Frau hatte zusehen müssen. Ihre gellenden Schreie verfolgten ihn auch jetzt noch jede Nacht bis in den Schlaf, und der Wunsch, ihren Tod zu rächen, wurde mit jedem Tag stärker.
In jener Nacht waren seine Welt und alles, woran er geglaubt hatte, in Scherben zerbrochen. Allein der Gedanke an Rache, der wie ein verzehrendes Feuer in ihm brannte, hatte ihn damals davon abgehalten, se i nem Leben selbst ein Ende zu setzen. In blankem Hass hatte er geschworen, den Tod seiner Frau hu n dertfach zu vergelten, und den Schwur mit seinem eigenen Blut besiegelt. Es war ein Schwur, der keine Mittelwege duldete. Ein Schwur, den er mit aller Härte umsetzte, dem er Mitgefühl und Sanftmut g e opfert hatte und an den er sich bis an sein Lebense n de gebunden fühlte. Die Erde auf dem Grabhügel seiner Frau war noch frisch gewesen, als er sich auf den Weg in die Berge gemacht hatte, um sein Leben fortan dem Kampf g e gen Karadek zu widmen. Drei
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