Königsallee
den beiden die Hand. »Wir sind Kollegen.«
Koslowski runzelte die Stirn. »Hab schon gehört. Innerer Dienst und so. Was ich mich schon immer gefragt habe: Was fällt da so für einen ab?«
»Wie?«
»Na, sag schon, Reuter. Im Inneren Dienst. Was lässt der Kripochef so springen? Was ist der Deal? Oder glaubst du, ich würde einfach so gegen meine Kollegen ermitteln?«
Reuter wandte sich ab und schlug die Klingel mit der Faust. Endlich krächzte eine Stimme aus der Gegensprechanlage. Er beugte sich zum Mikro: »Jan Reuter. Mein Bruder Edgar liegt auf Ihrer Station.«
Der Summer.
Hinter der Tür ein weißer Gang. Vorhänge, Glaswände, überall Piepsen und leises Stöhnen. Die Schwester war eine Asiatin, klein und resolut. Sie bestand darauf, dass Reuter einen der grünen Kittel überstreifte, die am Haken hingen. Dazu Mundschutz, Handschuhe sowie Hauben für die Schuhe – Einwegware aus dem Karton, fast wie an einem Tatort.
Plötzlich war Reuter neun Jahre alt.
Das gleiche Gepiepe, derselbe Geruch. Schläuche, Monitore, ein tristes Vorzimmer des Todes – seine Mutter hatte zwei Wochen lang im Koma gelegen, bevor sie an den Folgen ihrer Vergiftung gestorben war.
Reuter holte tief Luft.
Die Schwester wies ihm die Nische, in der sein Bruder lag. Ein Kabuff voller Technik. Ein Laken bedeckte Edgar vom Nabel abwärts. Verbände um Stirn und den rechten Arm. Ein Veilchen, eine geplatzte Lippe. Auf der Brust jede Menge dunkler Flecken: Blutergüsse und verschmiertes Wunddesinfektionsmittel. Unter einem Packen Verbandszeug trat ein Schlauch hervor.
Jan Reuter rang sich ein Lächeln ab. »Hallo, Edgar.«
Sein Bruder riss die Augen auf. Er bewegte die Lippen, doch es war nur ein Wispern zu hören. Eine Hand zuckte unruhig.
Reuter ergriff sie und hielt sie fest. Kalte Finger. Zuletzt hatte er Edgars Hand vor zwanzig Jahren gehalten, bei der Beerdigung ihrer Mutter. Der große Bruder – damals das letzte Stück Geborgenheit, zumindest die vage Hoffnung darauf.
Er rieb Edgars Finger, um ihnen Wärme zu geben. »Keine Panik, Großer. Hier bist du gut aufgehoben. Die Leute kümmern sich um dich. Du musst dir keine Sorgen machen, alles wird gut.«
Worte, die man so sagt.
»Hast du Schmerzen?«
Edgar schloss für ein paar Sekunden die Augen und Jan wusste nicht, ob es vorübergehende Benommenheit oder der Versuch einer Antwort war. Er war sich nicht einmal sicher, ob sein Bruder ihn erkannt hatte. Edgar erwiderte den Händedruck – vielleicht war es auch nur ein Reflex.
Jan überlegte: Würden die Kunsträuber ihren Komplizen und Verhandlungsführer so zurichten? Wenn ja, warum?
Robby, der das Bild transportiert hatte, war ermordet worden. Und jetzt sein Bruder – der Anblick Edgars, wie er halb tot im Krankenbett lag, trieb ihm die Tränen in die Augen.
Dann erkannte Reuter, dass sein Bruder ihn anstarrte. Schweiß auf der Stirn. Die Lippen bewegten sich. Ein Hauch: Es klang wie Huss.
»Ruhig«, wiederholte Reuter und streichelte die kalte Hand.
Edgars Lider flatterten. Ein Ruck ging durch den Körper, die Finger krallten sich ins Laken. Wieder versuchte Edgar, etwas zu sagen.
Hussef.
Jan Reuter neigte den Kopf – sein Ohr ganz dicht am Mund des Bruders.
Beim dritten Versuch glaubte er, ihn zu verstehen.
Grusew.
34.
Die fünf Nataschas nippten Champagner und plapperten durcheinander. Zwei von ihnen stritten sich um eine Korsage in Camouflagemuster. Die anderen bellten die Verkäuferin wegen eines Jäckchens an. Der grimmige Muskelprotz übersetzte: »Gibt es das auch in Farbe Rosa?«
Die bemühte Angestellte verneinte und zeigte erste Anzeichen der Verzweiflung.
Damenprogramm – Simone hatte rasch begriffen, dass Sightseeing für die Frauen des Karpow-Clans nur ein Synonym für Shoppen war. Willkommen auf der Königsallee: Prada und Gucci, Armani und Louis Vuitton, Etienne Aigner, Hermès, Féraud, Joop und Jil Sander, Max Mara und Toni Gard, Cartier, Bulgari und Tiffany – der Himmel für die Nataschas.
Auf Simones Vorschlag waren sie zu Fuß unterwegs, denn die Läden lagen nur einen Katzensprung vom Hotel entfernt. Keine Geländewagen, keine Straßenkreuzer, nur ein einziger Bodyguard – vermutlich ein völlig neues Gefühl für die Ladys aus dem Osten.
Ihren Geschmack fand Simone gewöhnungsbedürftig, ihr Benehmen ebenso. Die Frauen aus dem Milliardärstross trugen luftige Kleidung, als sollte es beim Umziehen möglichst schnell gehen. Die beiden jüngsten suchten erst gar keine Kabinen
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