Koenigsblut - Die Akasha-Chronik
stehen und mich mit starrem Blick zu sich locken. Die süße Stimme klang in meinem Kopf:
„Komm zu mir, Selma!“
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich rannte aus dem Amphitheater hinaus in die Eingangshalle, wo ich zusammenbrach.
Die Wucht der Bilder nahm mir das Bewusstsein.
Weihnachten
Die weihnachtlich geschmückte Küche meiner Großmutter war in warmen Kerzenschein getaucht, in der Luft schwebte der Duft von Orangen und frischen Tannennadeln. Aus dem dunklen Garten leuchteten die dick verschneiten Beete und Wiesen silbern im Mondschein. Es war klirrend kalt, die Temperatur war auf minus 20 Grad gefallen. Doch je kälter es draußen wurde, desto wohler fühlte ich mir hier drinnen am Kamin, in dem ein kleines Feuer flackerte. Von der vollen Teekanne stiegen aromatische Wölkchen auf und verbreiteten den Duft von Pfefferminze im ganzen Raum.
Ich war zu Hause in der Steingasse in meinem Bett aufgewacht, müde, erschöpft und den Kopf voller schmerzhafter Bilder. Selbst jetzt, ein paar Tage später brummte immer noch ein fieser Kopfschmerz hinter meiner Stirn, als wenn sich die Bilder wie Rasierklingen in meine Gehirnwindungen geschnitten hätten und die Wunden nur langsam verheilten. Meine Großmutter wusste nicht, was mit mir los war. Sie nahm an, ich hätte mich überarbeitet und ich ließ sie in dem Glauben. Ich hatte noch nicht den Mut gefunden, sie zur Rede zu stellen, denn wer sonst sollte all diese Erinnerungen gelöscht haben.
Sie kannte alle magischen Pflanzen und ihre Wirkungen und nur sie hatte so eng mit mir zusammengelebt, dass es ein leichtes gewesen sein musste, mir einige der Knollenbeeren ins Essen oder in den Tee zu mischen.
Ich schaffte es einfach nicht, meine verwirrenden Gefühle zu sortieren. Ich liebte Weihnachten bei meiner Großmutter. Es war immer ein gemütliches Fest gewesen mit selbstgebackenen Keksen, Weihnachtsgeschichten, Kerzenschein und Geschenken. Doch die Unschuld dieser Tage war zerstört, ich hatte Bilder in meinem Kopf, die jedes Glück verhöhnten. Ich musste mit ihr sprechen, doch ich zögerte. Die Angst, den letzten Menschen meiner Familie zu verlieren, war zu stark. Wer blieb mir denn, wenn ich diese Verbindung zerbrach? Auch wenn mich Adam zu sich eingeladen hatte, glaubte ich nicht daran, dass aus uns jemals ein Paar werden könnte, dass sich zwischen uns wieder die starke Verbindung entwickelte, die einmal gewesen war.
„Träumst du?“, fragte Liana, die in einem dicken Strickpullover neben mir saß und sich die Hände an ihrer Teetasse wärmte. Das einzig Gute an meinem Zusammenbruch war, dass Liana wieder mit mir sprach. Der Schreck, den sie bekommen hatte, als ich leblos in der Eingangshalle gelegen hatte, hatte sie zur Besinnung gebracht.
„Nein!“, sagte ich. „Ich bin nur müde.“ Ich konnte nicht ehrlich zu ihr sein und das zermürbte mich. Ich hatte in meinen Erinnerungen etwas gefunden, von dem Liana nichts mehr wusste und was ihre Eltern zu der übereifrigen Sorge veranlasste, mit der sie Liana schon angesteckt hatten. Grund für ihre Vorsicht war Mira, Lianas ältere Schwester. Sie verschwand kurz nach ihrem siebzehnten Geburtstag bei einem Spaziergang ins Nachbardorf. Ich erinnerte mich wieder an den Schock und an den Schmerz, den ihr Verschwinden ausgelöst hatte. Sie wollte eine Freundin besuchen und hatte, genauso wie ich im letzten Sommer, keine Ahnung davon, dass hinter den schützenden Mauern von Schönefelde die Morlems darauf warteten, dass eines der Mädchen einen Fehler machte.
Liana wusste nichts davon. Rein gar nichts. Sie ahnte nicht einmal, dass sie vor vielen Jahren eine Schwester gehabt hatte. Dieses Wissen brachte mich in eine unerträgliche Zwickmühle. Sollte ich ihr eine der Blüten geben, sollte ich ihr den Schmerz zumuten? Jetzt war sie glücklich und halbwegs unbeschwert, wenngleich von einer permanenten Angst und Sorge umgeben, die sie sich vermutlich nicht einmal selbst erklären konnte. Durfte ich ihr das gnädige Vergessen nehmen? Ich seufzte. Jetzt war ich die, die ein Geheimnis verbarg. Im Sommer hatte ich es Liana übel genommen, das sie dasselbe mit mir getan hatte.
„Ich freue mich nur auf ein paar völlig ungestörte Tage zu Hause, das ist alles“, sagte ich schließlich und lächelte. Ich war noch nicht bereit, den zarten Frieden zu zerstören, der gerade wieder zwischen uns herrschte. Ich öffnete eines der Pakete, die auf dem Küchentisch standen und packte vorsichtig eine gläserne Kugel
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