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Königskind

Königskind

Titel: Königskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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verstümmelt.«
    »Und das schreckt sie?«
    »Und wie! Unsere schönen Herren, Madame, sind keine Schwächlinge: Sterben, das schert sie nicht groß. Aber ein Bein verlieren!
     Der Liebe nachlaufen mit einem Holzbein!«
    »Man hat Sie also in Frieden gelassen?«
    »Nicht ganz. Die Kabale zettelte ein paar Geschichtchen an, nicht so böse, daß ich sie mit dem Degen hätte ausfechten müssen, |94| aber doch boshaft genug, mich zu ärgern. Kurz, man kläffte gegen mich, aber da ich nicht auf den Mund gefallen bin, kläffte
     ich zurück, damit war die Sache erledigt.«
    »Und wie empfing Sie der kleine König?«
    »Darauf komme ich gleich, Madame, sowie ich durch diese Plauderei mit Ihnen frischen Mut gefaßt habe.«
    * * *
    Die Szene spielte sich an einem kalten, grauen Novembermorgen ab, am Montag, dem zweiundzwanzigsten, wenn ich mich recht entsinne.
     Es war fünf Monate her, fünf lange Monate, seit ich nicht mehr in Ludwigs Nähe gewesen war, und als dieses Glück mir das letztemal
     zuteil geworden war, hatte er mich gnädig in seine Karosse eingeladen, um in Gesellschaft von Monsieur de Souvré und Héroard
     die blumengeschmückten, hölzernen Triumphbögen anzuschauen, die auf den Pariser Plätzen für den Einzug der Königin nach ihrer
     Salbung errichtet worden waren. Eine Spazierfahrt, die in unschuldigster Freude begann und die so unheilvoll abbrach bei der
     Nachricht, daß König Henri Quatre in der Rue de la Ferronnerie erstochen worden war.
    Mein Herz klopfte, als der Großkämmerer von Frankreich mich gemessen und pompös, wie es seine Gewohnheit war, in die königlichen
     Gemächer führte. Zum Unglück konnte er mich dem König nicht gleich vorstellen, wie es das Protokoll befahl, um in mein Amt
     eingesetzt zu werden: Ludwig war bei seiner Lateinstunde und so aufmerksam, daß er nicht einmal den Kopf wandte, als ich eintrat.
    Es waren mehr Leute zugegen, als ich erwartet hätte. Monsieur de Souvré, Ludwigs Erzieher, der die alleinige ›Macht der Rute‹
     über ihn hatte, Monsieur de Préaux, der zweite Erzieher, Doundoun, seine einstige Amme, die Herren Blainville, Praslin, Vitry,
     seine Gardehauptleute, der große Reiter Monsieur de Bellegarde, Doktor Héroard und Monsieur d’Auzeray, der Erste Kammerdiener.
     Alle standen ziemlich stumm, entweder weil ihnen nicht nach Reden zumute war oder weil sie von Monsieur de Souvré nicht zur
     Ordnung gerufen werden wollten.
    »Sire«, sagte der Hofmeister zu Ludwig, »erinnert Ihr Euch der zwei Verszeilen, die ich Euch vor zwei Wochen lehrte?
     
    |95|
Caesareos fateor titulos habet Austria multos.
    At Caesar verus Carolus unus erat
.
«
     
    »Ja, Monsieur«, sagte Ludwig.
    »Sire, wollt Ihr sie übersetzen?«
    »Ich bekenne, daß Österreich viele Kaisertitel hat, aber der einzig wahre Cäsar war Karl.«
    »Sehr gut, Sire. Wollt Ihr diese zwei Verse jetzt auf lateinisch wiederholen?«
    »Monsieur, ich will sie aber nicht wörtlich aufsagen.«
    »Gut, Sire, dann sagt sie auf Eure Weise.«
    »Caesareos fateor titulos habet Austria multos, at Caesar verus Henricus unus erat.«
    Ludwig hatte nur ein Wort geändert, aber dieses Wort änderte alles: der einzige wahre Cäsar war nicht mehr Karl, sondern Henri.
    Ein Schweigen, weit schwerer als die Stummheit zuvor, herrschte im Raum. Wer wollte den kleinen König schelten, daß er seinen
     Vater über den größten Habsburger stellte? Wer aber konnte andererseits vergessen, daß seine Mutter von den Habsburgern abstammte,
     genauer gesagt, die Großnichte Karls V. war? Und daß sie Ludwig, ihren ältesten Sohn, mit einer spanischen Habsburgerin vermählen
     wollte?
    Verstohlen ließ ich meinen Blick ringsum über die Gesichter schweifen. Sie waren marmorn. Gerade so, als hätte keiner der
     Anwesenden genug Latein gekonnt, um den Unterschied zwischen
Carolus
und
Henricus
zu erkennen, noch gewußt, welche großen Fürsten die beiden Namen bezeichneten. Ich verweilte bei der Physiognomie von Héroard
     und fand sie zu meiner Überraschung weniger gleichmütig als besorgt. Erst sehr viel später erfuhr ich den Grund. Héroard wußte
     (was ich nachher selbst erkannte), daß es unter den Dienern des Königs, die doch alle so beflissen um den kleinen König erschienen,
     zwei Spitzel gab, die jedes Wort, jedes nichtigste Tun von ihm belauerten und der Königin bis ins kleinste hinterbrachten.
    Die Lateinstunde war zu Ende, und ohne Monsieur d’Aiguil lon die Zeit zu meiner Vorstellung zu lassen, trat

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