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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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nicht leicht fiel, weil ich damit eine Leidenschaft begrub. Aber es wäre unlogisch gewesen, weiterhin Architekt werden zu wollen, obwohl ich in Walters Firma bereits eine außergewöhnlich exponierte Position innehatte und mehr oder weniger allein millionenschwere Projekte stemmte. Walter nannte mich immer wieder sein »Wunderkind«, und ich fragte mich, was Sophie wohl empfand, wenn er mich seinen Geschäftspartnern stolz als den Sohn vorstellte, den er niemals hatte. Ich bat ihn, mit diesen Sprüchen aufzuhören, aber spätestens nach dem dritten Bier vergaß er meine Bitte regelmäßig.
    Ich nahm Walters Angebot einer eigenen Wohnung an (hundertzehn Quadratmeter mit Dachterrasse in Alsternähe), da mein Vater sich langsam vom Verlust meiner Mutter berappelt hatte und mich nicht mehr brauchte. Papa hatte eine zaghafte Romanze mit einer Nachbarin begonnen: Gitte war eine dralle, fröhliche Glucke, die meinen Vater mit so viel Lebensfreude übergoss, dass er gar keine Chance mehr hatte, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Die beiden machten Radtouren zusammen, gingen ins Theater und Gitte sagte ihm, welche Bäume im Garten er beschneiden müsse und welche Blumen er für die Rabatten kaufen solle. Mein Vater fand dann mit hundertprozentiger Sicherheit das Gartencenter, in dem eben diese Blumen am billigsten zu bekommen waren.
     
    Mein Leben in der ersten Hälfte der neunziger Jahre bestand im Wesentlichen aus Arbeit. Ich schreibe diesen Bericht aber nicht, um über meine Karriere zu reflektieren, sondern um über andere Dinge nachzudenken. Dinge, denen ich bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. Ich habe das Gefühl, dass die Antworten, die ich suche, in den Details stecken. In den Augenblicken, die ich nicht oder zumindest nicht bewusst gewürdigt habe.
    Okay. Ich denke nach.
    Und hier sind sie: Drei Dinge, die ich nicht vergessen habe, obwohl ich keine Erklärung für ihre Relevanz habe, drei potenziell wichtige, auf den ersten Blick aber unbedeutende Momentaufnahmen aus der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts meines 20. Jahrhunderts. Warum haben diese auf den ersten Blick völlig banalen Begebenheiten nach all den Jahren immer noch einen festen Platz in meinem Gedächtnis? Dafür muss es einen Grund geben, oder?
     
    Nummer 1:
    1992 saß ich in einem Sechser-Abteil der Bundesbahn und fuhr nach Berlin. Wer auch nur ansatzweise mit Immobilien zu tun hatte, verbrachte Anfang der neunziger Jahre viel Zeit in Berlin und im Osten der Republik. Ich las in einem populärwissenschaftlichen Buch über die Chaostheorie. Mir gegenüber saß ein pickliger, etwa siebzehnjähriger Teenager. Er war der Einzige, mit dem ich das Abteil teilen musste. Aus seiner Tasche lugte eine Zeitschrift namens ct  – eines der anspruchsvollsten Computermagazine. Ich merkte, dass der Junge mich beobachtete.
    »Ist irgendwas?«, fragte ich.
    »Beschäftigst du dich mit so etwas?«, fragte er und zeigte auf das Buch. »Wahrscheinlichkeitsberechnungen, Zufallsforschung, die Kalkulation des Universums?«
    »Du gehst nicht zufällig auf die Rudolf-Mößbauer-Schule, oder?«, fragte ich grinsend.
    Der Junge verstand meinen kleinen Scherz natürlich nicht. Er schaute mich einfach nur an.
    »Nein«, antwortete ich schließlich. »Eigentlich beschäftige ich mich nicht mit so etwas. Ich bin Architekt … also, ich studiere Architektur. Aber wenn man so viel über Statik und Haltbarkeit nachdenkt wie ich, will man eben auch etwas über das Gegenteil wissen. Hier steht, dass jede einzelne Sekunde unseres Lebens, jede noch so winzige Handlung unser Dasein, die Existenz unseres Planeten komplett verändern kann. Dass wir beide jetzt hier dieses Gespräch führen, könnte laut Chaostheorie dazu führen, dass … keine Ahnung … in China ein Sack Reis umfällt. Oder dass der Mantelpavian ausstirbt. Oder dass du Millionär wirst und ich den hinduistischen Glauben annehme.«
    Der Junge dachte eine Weile nach. »Nein«, sagte er dann. »Glaube ich nicht.«
    »Auch okay.« Ich war mir selbst nicht sicher, ob ich die Chaostheorie nicht für Humbug hielt.
    »Ich glaube, alles ist berechenbar«, sagte der Junge nachdenklich. »Es gibt eine stringente und bei konsequenter Handlung hundertprozentig verlässlich steuerbare Kausalität.«
    Ich schluckte. Dieser Junge wäre selbst auf der Mösenkauer-Schule als Klugscheißer gemobbt worden.
    »Okay«, sagte ich noch einmal. »Hast du auch ein Beispiel dafür?«
    »Bist du im Internet?«, fragte der

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