Kohärenz 01 - Black*Out
legte er das Medaillon an, mit dem festen Vorsatz, es von nun an jeden Tag zu tragen. Nur zur Erinnerung an sie, sagte er sich.
Ansonsten ging er eben wieder zur Schule und langweilte sich dort wie eh und je.
Ab und zu suchte er im Internet nach Spuren von Linus. Viel war nicht zu finden; die Upgrader bildeten eine seltsame, verschwiegene Szene, die im Verborgenen lebte. Nur selten, auf exotischen Servern etwa oder in Peer-to-Peer-Netzwerken, die sich meist, kurz nachdem Christopher sie aufgespürt hatte, wieder verflüchtigten, stieß er auf ihre Spuren: kryptische Teile seltsamer Programme, kaum zu verstehende Mitteilungen, Überbleibsel gelöschter Dateien mit ominösen Bildern und dergleichen. Mit Sicherheit sagen konnte man nur, dass es überall auf der Welt – in den USA, in Japan, Russland, Australien, Malaysia – Leute geben musste, die an Hirn-Maschine-Kopplungen arbeiteten. Sie taten es auf eigene Faust, abseits von Universitäten oder Forschungsabteilungen, in Kellern und Hinterzimmern und mit Geräten, die jedermann kaufen konnte. Sie bastelten bizarre Schaltungen, die sie in riskanten Operationen mit ihrem eigenen Körper verbanden, manchmal mithilfe von Freunden, die kaum mehr vom Operieren verstanden, als man aus Büchern lernen konnte.
»Brain-LAN-Party«, nannten sie das, wenn sich eine Handvoll Leute trafen, um einem von ihnen – auf dem Wohnzimmertisch liegend und mehr schlecht als recht narkotisiert – mit primitiven OP-Instrumenten Löcher in den Schädelknochen zu treiben und Anschlussdrähte hineinzuschieben.
Nicht wenige trugen bleibende Schäden davon, manche starben auch in der Folge ihrer Experimente, in verborgenen Foren wortreich betrauert und als Helden verehrt. Doch die Übrigen machten unverdrossen weiter.
Einer dokumentierte auf einer nur per Passwort zugänglichen Seite, wie er morgens vom Bett aus per Gedankenbefehl die elektrischen Rollläden hochfahren ließ und die Kaffeemaschine einschaltete – und verschwieg auch nicht den Nachteil seines selbst gebastelten Implantats: Es reagierte empfindlich auf Feuchtigkeit, weswegen er nicht mehr duschen konnte.
Ein anderer arbeitete daran, sein Auto per Gedanken zu steuern. Er hatte sogar einen guten Grund dafür: Er war seit einem Motorradunfall halbseitig gelähmt; sein Bruder lötete die Schaltkreise nach seinen Vorgaben. Doch die Website, auf der er von seinen Experimenten berichtete, war schon länger nicht mehr aktualisiert worden, und in einem geschützten Forum, in das sich Christopher erst hineinhacken musste, erfuhr er, dass der Betreffende bei einer Probefahrt ums Leben gekommen war. Ohne eigene Schuld, betonte derjenige, der davon berichtete, aber er führte nicht weiter aus, wessen Schuld es stattdessen gewesen sei.
So ging ein Jahr ins Land. Christophers Mutter flog immer öfter nach Frankfurt, um nach ihrem Vater zu sehen und nach dem Haus. Ab und zu überlegte sie, in ihren alten Beruf zurückzukehren. Doch jedes Mal wenn sie und Dad darüber sprachen, kam der Punkt, an dem sie sagte: »Eigentlich war es entsetzlich stressig. Ich weiß nicht, ob ich mir das noch mal antun muss.« Und damit war das Thema wieder für eine Weile vom Tisch.
Man merkte, dass ihr das englische Landleben inzwischen gefiel: der Wochenmarkt in der Dorfmitte, die Nachbarn, die ihren Rasen mit der Schere schnitten … Sogar an den Linksverkehr habe sie sich gewöhnt, erklärte sie.
Und dann fand sich eines Tages ein dicker Umschlag mit fremdländischen Briefmarken darauf in der Post. Er war an Dad adressiert, der ihn abends öffnete und durchlas.
»Na, so was«, sagte er, überflog die Zeilen noch einmal und sagte schließlich: »Der ist von Linus, stellt euch vor. Er lebt jetzt in Singapur. Er hat zusammen mit ein paar anderen eine Firma gegründet, die sehr erfolgreich ist, wie er schreibt, und er lädt uns ein, ihn zu besuchen. Alle drei.«
Er hob eine kleine Mappe hoch. »Das sind die Tickets. Businessclass!«
39 | Der Changi Airport in Singapur war gigantisch, aber traumhaft gut organisiert. Den Schildern war zu entnehmen, dass Flugreisende, die hier umstiegen und auf ihren Anschlussflug warten mussten, sich die Zeit in einem Kino, einem Schwimmbad oder diversen Restaurants vertreiben konnten. Und überall standen PCs mit Internetanschluss, kostenlos zu benutzen. Christopher bedauerte es beinahe, dass Linus und seine Freundin sie schon erwarteten.
»Diesmal ist es die große Liebe, wenn du mich fragst«, sagte Christophers
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