Kohärenz 02 - Hide*Out
Lied nur. Und zwar weil…« Sie biss sich auf die Lippen. »Also, ich spiel nicht bloß Lieder nach, ich hab auch ein paar eigene geschrieben. Und eins von denen sing ich jetzt, weil ich das schon lange tun will und mich bisher nur nie getraut habe.«
Sie nahm ihre Gitarre und fing an zu spielen, ehe jemand reagieren konnte. Der Mann mit den Bongos fiel in ihren Rhythmus ein, die Mundharmonika übernahm ein leises Intro. Der Spieler beobachtete Madonna, wartete wohl auf ihren Einsatz.
Schließlich begann sie zu singen. Und Christopher lief eine Gänsehaut über den Rücken.
Der Song hieß No Longer Lonely – zumindest kam das im Refrain ein paarmal vor – und das Lied passte perfekt zu ihrer dunklen, leicht rauchigen Stimme. Sie hatte ungewöhnliche Wendungen in die Melodie eingebaut, aber man hätte trotzdem gleich mitsingen können, und gegen Schluss taten das manche auch. Christopher nicht, doch er ertappte sich dabei, wie er unwillkürlich mit dem Knie im Rhythmus ihres Songs wippte.
Als sie endete, brach ein Applaus los, der gar nicht mehr aufhören wollte. Sie musste das Lied noch einmal spielen. Und während sie sang, in diesen paar Minuten, dachte niemand an die Kohärenz, nicht einmal Christopher.
»Ich weiß es wieder«, erklärte Dad, als sie spät in der Nacht zurück in ihr Zelt kamen.
»Was?«, fragte Christopher.
»Was ich dir heute Nachmittag sagen wollte«, sagte Dad und ließ sich ächzend auf seine Liege plumpsen. Jetzt merkte man doch, dass der Abend ihn sichtlich angestrengt hatte. »Das, von dem ich gesagt habe, es liegt mir auf der Zunge.«
»Und?« Christopher setzte sich ihm gegenüber, auf den Rand seiner eigenen Liege.
»Erinnerst du dich, was die Kohärenz zu dir gesagt hat, da in der Fabrik in Silicon Valley?«
»Ja«, sagte Christopher. Natürlich. Er erinnerte sich an jedes Wort. Bis zu seinem Lebensende würde er keines davon vergessen.
Auch nicht, wie die Kohärenz unter anderem durch seinen Vater zu ihm gesprochen hatte. Sie hatte seinen Mund benutzt. Auch der Mund seines Vaters hatte zu ihm gesagt: Du hast uns gefehlt, Christopher. Wir wollen, dass du zu uns zurückkommst.
»Sie hat gesagt, dass sie dich zurückhaben will, erinnerst du dich? Dass sie so Sehnsucht hat nach dir.«
»Ja«, erwiderte Christopher. »Der verlorene Sohn.«
Dad nickte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die immer trocken waren. »Das war eine Lüge«, erklärte er. »Die Kohärenz sucht dich nicht, weil sie Sehnsucht nach dem verlorenen Sohn hat. Sie hat keine Sehnsucht. So etwas wie Sehnsucht kennt sie gar nicht. Sie hat Angst.«
»Angst? Wovor denn?«
»Vor dir.«
Christopher lachte ungläubig auf. »Vor mir?«
Das war beunruhigend lächerlich. Lächerlich, weil die Kohärenz – ein Verbund aus über hunderttausend Gehirnen, und zwar weitgehend aus Gehirnen von Menschen in Schlüsselpositionen der Politik, Wirtschaft, den Geheimdiensten und der Streitkräfte – so unglaublich intelligent und so unglaublich mächtig war, dass es über jedes Fassungsvermögen hinausging.
Und beunruhigend, weil, wenn Dad sich an dergleichen zu erinnern glaubte, mit seinem Erinnerungsvermögen womöglich doch etwas ernsthaft nicht mehr stimmte.
Das war immer noch Christophers größte Sorge: dass es sich herausstellen mochte, dass jemand, der einmal Teil der Kohärenz gewesen war, irreparable Schäden davontrug.
»Dad«, sagte Christopher behutsam, »das ist ziemlich unwahrscheinlich. Es gibt keinen Grund, warum die Kohärenz Angst vor mir haben sollte. Sie ist vielleicht angepisst, weil ich ihr entwischt bin, und sie ist bestimmt sauer, dass ich dich rausgeholt habe – aber ganz bestimmt hat sie keine Angst vor mir.«
»Doch«, beharrte Dad. »Hat sie. Die Kohärenz hat panische Angst. Und einer von denen, vor denen sie am meisten Angst hat, bist du.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Kohärenz ist die größte Macht auf Erden. Wenn sie es beschließt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich alle Menschen einverleibt hat, die heute leben. Wovor sollte eine solche Macht Angst haben?«
»Na, wovor hat man Angst? Davor zu sterben. Das ist die Urangst. Auch die Kohärenz hat diese Angst. Sie hat Angst zu sterben. Und sie ist überzeugt, dass du eine Gefahr für sie darstellst. Nur deswegen ist sie hinter dir her.«
Christopher seufzte. »Okay. Ist ja eigentlich auch egal, weswegen sie hinter mir her ist.«
Dad sah ihn an, schüttelte den Kopf. »Nein, eben nicht. Wenn sie
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