Kokoschanskys Freitag
lichtern und heulenden Martinshörnern vorbei. Was ist denn nun schon wieder los? Kurzerhand gibt er Vollgas und versucht sich anzuhängen, so gut er kann. Er kurbelt das Seitenfenster herunter, da er das Gefühl nicht los wird, es e rtönen mehr und mehr Hörner unterschiedlicher Einsatzfahrzeuge, und behält recht. Das Radioprogramm wird unterbrochen, der Verkehrsfunk melde t s ich, der Sprecher redet von einem schweren U-Bahn-Unglück in der Sta tion Stephansplatz, doch Genaueres ist im Moment noch nicht bekannt. Es wird geraten, die Innenstadt zu meiden und großräumig zu umfahren.
Natürlich ist es Koko nicht gelungen, sich an die Polizeiautos anzuhängen, braucht er auch nicht. Er weiß ohnehin, wohin er muss. Auf dem Schwedenplatz ergattert er tatsächlich einen freien Parkplatz, was am Vormittag um diese Zeit eher einem Wunder gleicht. Halteverbot, auch recht. Er legt das Presseschild auf die Ablage hinter der Windschutzscheibe in der Hoffnung, die Parksheriffs lassen sich davon beeindrucken und seine Karre in Ruhe.
Im Laufschritt eilt Kokoschansky die Rotenturmstraße hoch Richtun g Stephansplatz. Je näher er dem Unglücksort kommt, desto mehr verstörte und verängstigte Menschen begegnen ihm. Manche weinen hemmungslos, andere halten sich, vor Schreck erstarrt, die Hand vor den Mund. Keuchend erreicht er den Stephansplatz mit dem majestätischen Wahrzeichen der Stadt, dem Dom. Er ist zum richtigen Zeitpunkt gekommen, noch hat die Polize i das Chaos nicht vollständig im Griff. Von der Rolltreppe und dem Treppen aufgang der U-Bahn, genau gegenüber dem Haupteingang der Kirche, tau meln ihm unzählige Menschen entgegen. Viele blutüberströmt, einige sind zusammengebrochen, über die andere achtlos drübersteigen und auch versehentlich darauftreten, nur um diesem Inferno zu entkommen.
Das ist kein Zusammenprall zweier Züge oder eine Entgleisung, denkt Kokoschansky, das ist viel schlimmer. Er entdeckt eine Lücke zwischen de n davoneilenden Menschenleibern, durch die er sich hindurchzwängt, die Treppe abwärts stolpert und die erste untere Ebene erreicht. Das hätte er lieber bleiben lassen sollen. Das Bild, das sich ihm bietet, wird er noch lange Zeit mit sich herumtragen. Überall liegen Menschen in ihrem Blut, verzweifelt versuchen andere zu helfen, Erste Hilfe zu leisten. Die Lifte, die zu den Bahnsteigen führen, sind stecken geblieben. In den Kabinen sind Leute ge fangen, langsam wird die Luft knapp. Überall satter Rauch, es stinkt bestial isch nach verbranntem Fleisch. Nur mühsam gelingt es den Rettungskräf ten und der Polizei vorzudringen. Kinder schreien nach ihren Müttern und Vätern. Ein jüngerer Mann lehnt an einer Wand, das Gesicht kohlraben schwarz, seine Kleidung zerrissen, die Haut hängt an ihm als verkohlte Fetze n. Er bewegt nur lautlos die Lippen, starrt zur Decke.
Plötzlich entdeckt Kokoschansky Lena.
„Lena!“, brüllt er. „Lena!“
Aber in dieser fürchterlichen Kakophonie aus Schmerzen, Verzweiflung und Todesangst hört sie ihn nicht. Kokoschansky zwängt sich durch, muss all seine Beherrschung zusammennehmen, um nicht selbst umzukippen, als er beinahe auf ein abgerissenes Männerbein steigt. Lena schleppt ein Mädchen in ihren Armen, vielleicht zehn, zwölf Jahre alt, mit Brandwunden übersät, ihr Kopf baumelt nach unten, die Augen weit aufgerissen.
„Lena!“ Endlich erreicht Kokoschansky seine Lebensgefährtin. Ihre Uniform ist verdreckt, an einem Ärmel aufgerissen, Blutspritzer in ihre m Gesicht.
„Bist du okay, Lena?“
„Ja, ja! Hilf mir!“
Er nimmt ihr das Kind ab, legt es vorsichtig auf den Steinboden, sieht in sein Gesicht und weiß, hier kann niemand mehr helfen. Er greift nach einer Jacke, die achtlos herumliegt, kämpft mit den Tränen und legt sie dem Mädchen über das Gesicht.
„Was ist das für eine verfluchte Scheiße?“ Kokoschansky will nur mehr brüllen und nicht mehr aufhören. Zu seinen Füßen ein totes Kind, rund um ihn nur mehr Apokalypse.
„ Eine Bombe“, sagt Lena leise und dennoch versteht es Kokoschansky . „Vielleicht auch mehrere. Ich weiß es nicht. Warst du in der U-Bahn?“
„Nein ...“
„Geh nicht weiter, bitte. Verschwinde wieder nach oben. Du kannst nie mehr vergessen, was du dort unten siehst. Glaube es mir. Ich muss weiter.“
„Warte!“ Er hält sie am Arm zurück. „Ich bleibe hier, versuche mitzu hel fen, Leute herauszubringen. Ich kann doch nicht einfach nach oben gehen und mich unter die
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