Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
genauso verblüffend wie ihre Größe. Nach der Darstellung der gängigen Lehrbücher besteht die amerikanische Geschichte in der Regel darin, dass Europäer in eine kaum besiedelte Hemisphäre vordrangen. Tatsächlich lebten dort zig Millionen Menschen. Und die größte Einwanderergruppe auf dem amerikanischen Kontinent waren Afrikaner, die schon bald die Bevölkerungsmehrheit in all den Regionen stellten, die nicht von den indigenen Gesellschaften kontrolliert wurden. Demographisch betrachtet, so schreibt Eltis, «war Amerika bis ins 19 . Jahrhundert eher ein Anhangsgebilde Afrikas als Europas». [39] [556]
In den drei Jahrhunderten nach Colón gründeten Migranten von jenseits des Atlantiks neue Städte und füllten sie mit Häusern, Kirchen, Wirtshäusern, Lagerhäusern und Ställen. Sie rodeten Wälder, legten Felder an, bauten Straßen, hielten Pferde, Rinder und Schafe – Tiere, die es zuvor auf dem amerikanischen Kontinent nicht gegeben hatte. Sie fällten Bäume, um Schiffe zu bauen, betrieben Fabriken mit der Wasserkraft von Flüssen und führten Kriege gegen andere Neuankömmlinge. Gemeinsam bearbeiteten und veränderten sie dabei die amerikanische Landschaft und schufen eine neue Welt, die eine ökologische und kulturelle Mischung aus Alt und Neu und etwas ganz anderem war.
Diese große Umgestaltung, ein Wendepunkt in der Geschichte unserer Art, wurde großenteils von afrikanischen Händen vollbracht. Die Menschenmengen, die sich in den Straßen der neuen Städte drängten, waren überwiegend afrikanische Menschenmengen. Die Bauern, die Reis und Weizen auf den neuen Höfen anbauten, waren überwiegend afrikanische Bauern. Die Menschen, die die Boote auf den Flüssen, den wichtigsten Verkehrswegen, ruderten, waren überwiegend afrikanische Menschen. Die Männer und Frauen auf den Schiffen, in den Schlachten und in den Fabriken waren überwiegend afrikanische Männer und Frauen. Sklaverei war die grundlegende Institution des modernen Amerikas.
Im 19 . Jahrhundert kam es dann zu einer anderen, noch größeren Einwanderungswelle, die dieses Mal von Europäern beherrscht wurde. Sie veränderte das demographische Gleichgewicht ein zweites Mal, sodass die Nachkommen der Europäer die Mehrheit im größten Teil der Hemisphäre stellten. Umgeben von ihresgleichen, waren sie sich nur selten bewusst, dass sie Pfade begingen, die mehr als dreihundert Jahre lang von Afrikanern gebahnt worden waren.
Zwei Migrationsbewegungen aus Afrika waren Wendepunkte in der Verbreitung von
Homo sapiens
auf dem Erdball. Die erste war der Aufbruch vor 70 000 Jahren aus der Wiege der Menschheit – den östlichen Ebenen Afrikas. Die zweite war der transatlantische Sklavenhandel, das Hauptthema des folgenden Abschnitts. Dieser Handel, die erste Welle des kolumbischen Austauschs, die Menschen zum Gegenstand hatte, war der stärkste Auslöser für die Wanderbewegung, die die lange bestehenden geographischen Barrieren zwischen Afrikanern, Amerikanern, Asiaten und Europäern überwand. Im vorliegenden Kapitel konzentriere ich mich auf zwei verwandte Themen: erstens die Entwicklung der Plantagensklaverei, die der entscheidende Motor der Zwangsmigration von Afrikanern war; und zweitens die außergewöhnliche kulturelle Mischung, die die Sklaverei unbeabsichtigt förderte. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den Interaktionen der beiden Bevölkerungsgruppen, der Indianer und der Afrikaner, die die größten auf dem amerikanischen Kontinent werden sollten. Weitgehend dem Blick der Europäer entzogen, ging es in der Begegnung von Rot und Schwarz in erster Linie um den gemeinsamen Widerstand gegen die europäische Einmischung in ihr Leben – eine Rebellion, die in der gesamten Hemisphäre spürbar wurde und Folgen hatte, die sich noch heute bemerkbar machen. [557]
Johann der Stattliche lebte mit seiner Familie im Mittelpunkt des Hexenkessels – dieses wimmelnden, brodelnden Vielvölkergemischs. Ein buntes Durcheinander von afrikanischen Sklaven, asiatischen Ladenbesitzern, indianischen Bauern und Arbeitern und europäischen Priestern, Söldnern und niederen Adligen prägte diese Stadt der Exilierten und Reisenden – der erste urbane Komplex, in dem die Mehrheit der Einwohner ihre Wurzeln jenseits eines Ozeans hatte. Das war die soziale Welt, die durch den menschlichen Aspekt des kolumbischen Austauschs geschaffen wurde; Garrido, der sich vom Afrikaner erst zum Europäer und dann zum Amerikaner gewandelt hatte, war ein
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