Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
spiritueller Transzendenz. Zwar ist unter Wissenschaftlern die Frage noch strittig, ob C 12 H 22 O 11 tatsächlich ein Suchtmittel ist oder ob die Menschen sich nur so verhalten, als wäre es eins. Unbestritten aber ist, dass der Zucker eine erstaunlich wirksame Kraft in menschlichen Angelegenheiten war.
Zuckerrohr lässt sich leicht an tropischen Standorten anbauen, aber über größere Strecken nur schlecht transportieren, weil die Halme rasch zu gären beginnen und sich in eine stark riechende braune Masse verwandeln. Wen es also nach diesem Süßstoff verlangte, musste das Zuckerrohr selbst anbauen. Unaufhörlich breitete sich die Pflanze nach Norden und Westen aus und drang so bis China und Indien vor. «Pflanzen» müsste es eigentlich heißen, denn das Zuckerrohr, das man auf den Feldern der Plantagen findet, ist ein Gemisch aus Hybriden zweier Gattungen von
Saccharum.
[561] Das Verderblichkeitsproblem wurde in Indien schon 500 v.Chr. gelöst, als unbekannte Neuerer entdeckten, wie sich aus den Halmen mit einfachen, von Pferden oder Rindern betriebenen Mühlen der Saft gewinnen lässt, den man dann so lange kocht, bis ein harter, goldbrauner Rückstand aus relativ reinem C 12 H 22 O 11 entsteht. In dieser Form lässt sich Zucker in Lagerhäusern aufbewahren, in Kisten und Gläsern verschicken und an fernen Orten verkaufen. Eine Süßstoffindustrie war geboren. [562]
Fast ganz Vorderasien ist zu trocken, um Zuckerrohr anzubauen. Trotzdem gelang es den Menschen, indem sie im heutigen Iran, Irak und Syrien Flusstäler bewässerten. Um etwa 800 n.Chr. wurde das Zuckerrohr besonders häufig an der östlichen Mittelmeerküste angebaut, wo heute der Libanon und Israel liegen. Dort stießen die Kreuzfahrer zum ersten Mal auf das «Schilfrohr, das mit einer Art Honig, dem sogenannten
zucar
, gefüllt ist» – die Beschreibung verdanken wir Albert von Aachen, einem Chronisten des 12 . Jahrhunderts. [563]
Der Schriftsteller Michael Pollan hat von der Urerfahrung seines Sohns mit Zucker berichtet: dem Guss auf dem Kuchen zu seinem ersten Geburtstag. «Er war außer sich vor Entzücken, war Zeit und Welt entrückt. Zwischen den einzelnen Bissen starrte er mich entgeistert an (er saß auf meinem Schoß, und ich schob ihm gabelweise die Brocken Ambrosia in den sperrangelweit aufgerissenen Mund), als wollte er ausrufen: ‹So was hat eure Welt zu bieten? Dieser Sache werde ich ab heute mein Leben widmen.›» [564]
Ganz ähnlich erging es dem Heer der Kreuzfahrer auf dem Gebiet des heutigen Libanon. Kleriker, Ritter und einfache Soldaten hätten den
al-zucar
-Saft «mit äußerstem Vergnügen» geschlürft, berichtete Albert von Aachen; die Möglichkeit, etwas Zucker zu kosten, sei an und für sich «eine gewisse Entschädigung für die Leiden, die sie erduldet». Wie bei Pollans Sohn reichte eine einzige Probe dieses überirdischen Geschmacks aus, um ein lebenslanges Verlangen zu wecken: «Die Pilger konnten nicht genug von seiner Süße bekommen.»
In ihren neuen Zuckerplantagen sahen die Kreuzfahrer eine große Chance: die Versorgung Europas mit großen Mengen von C 12 H 22 O 11 – «einem höchst kostbaren Produkt», so der Erzbischof von Tyros, dem Zuckerzentrum der neuen Herrscher, «sehr notwendig für den Nutzen und die Gesundheit der Menschheit». Damals war Zucker eine Seltenheit in Europa; er galt als exotisches asiatisches Gewürz wie Pfeffer oder Ingwer und gelangte nur in die Küchen einiger Fürsten und Adliger. Nun schürten die Kreuzfahrer also bei den Wohlhabenden des Kontinents das Verlangen nach Süße und verdienten Geld damit, es vorübergehend zu stillen. [565]
Genauso wichtig wie der Zucker selbst waren die Umstände seiner Produktion: die Plantagenkultur. Eine Plantage ist ein riesiger landwirtschaftlicher Betrieb, der seine Ernte an fernen Orten verkauft. Um die Ergiebigkeit zu maximieren, wird auf Plantagen gewöhnlich nur eine einzige Pflanzenart auf weitläufigen Feldern angebaut. Für die großen Nutzflächen braucht man entsprechend viele Arbeitskräfte während der Pflanz- und der Erntezeit. Da Agrarprodukte verderblich sind, verschicken Plantagen ihre Ernte gewöhnlich in verarbeiteter Form: als getrockneten und fermentierten Tabak, gepresstes Olivenöl, durch Erhitzung verfestigten Naturkautschuk, fermentierten Tee und getrockneten Kaffee. Es muss auch eine Möglichkeit zum Transport der Produkte geben. Daher bestehen Plantagen in der Regel aus großen Ländereien in der Nähe
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