Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
Ihnen nach Hause gefahren?«
»Ja. Wobei, wenn ich so darüber nachdenke … wir können gar nicht zusammen gefahren sein, denn wir hatten uns erst am See getroffen. Ich war direkt von der Arbeit zum See gefahren und hatte mein Auto dabei, und er hatte seins. Er kam erst ein bisschen später zu mir. Er musste zuerst noch nach Hause und hat auf dem Weg zu mir etwas zu essen besorgt. Er hatte geduscht und sich umgezogen. Ich kann mich daran erinnern, weil er, als er an dem Abend zu mir kam, nicht kurze Hosen und T-Shirt trug wie sonst, sondern eine Jeans und ein langärmeliges Hemd. Wir hörten die Sirenen. Polizeisirenen, Sie wissen schon. Ich sagte, hör mal, da hat es wohl einen Unfall gegeben. Aber er hatte sicher nichts von Gemmas Verschwinden gehört, das hätte er mir erzählt.«
»Lisa, vielen Dank, dass Sie bei der Suche mitgeholfen haben. Und heute Zeit für mich hatten.«
»Ich fürchte, ich konnte Ihnen gar nicht helfen. Komisch, dass Sie sich an mich erinnert haben, wir haben uns ja gar nicht so gut gekannt. Ich habe oft an Gemma gedacht. Ihretwegen hole ich die Kinder immer vom Schulbus ab. Ich will da sein, wenn sie aussteigen. Ron findet, ich übertreibe, aber ich sage immer: Man weiß nie, was passieren kann.«
»Sie tun gut daran, auf Ihre Kinder aufzupassen.«
»Wahrscheinlich bekommen Sie es bei Ihrer Arbeit mit schlimmen Fällen zu tun. Zu oft vermutlich. Hey, Stephanie, es war nett, sich mit Ihnen zu unterhalten. Damals waren Sie ein gackernder Teenager. Sie haben sich nur für Jungs und Klamotten interessiert.«
»Ja, kann sein.«
»Heute ist das anders, was? Sie sehen aus wie Minna, sind angehende Psychiaterin. Wer hätte das gedacht? Gut gemacht.«
Sie lässt Roxburgh hinter sich. Fährt über die Ebene und dann ins Gebirge hinauf. Sie muss sich auf die Straße konzentrieren; die Steigung ist steil, vor jeder scharfen Kurve muss sie leicht abbremsen. Zu beiden Seiten der Fahrbahn erheben sich die riesigen, von Silber, Eisenstein, Kobalt durchzogenen Felsen.
Er war nicht bei Lisa. Er ist nicht mit ihr zusammen aufgebrochen.
Gemma wäre mit ihm mitgegangen, denn sie kannte ihn, und sie vertraute ihm. Sie vertraute jedem.
Hat er die Kleidung entsorgt, die er trug? Was ist passiert? Was ist passiert?
Die Felsen, der Himmel, der schwache Thymianduft verraten ihr, dass sie bald zu Hause ist. Bald wird der See in Sicht kommen.
An jedem Tag ihres Lebens konnte sie ihn sehen, makellos glitzernd. Aber nach jenem Tag, nach Gemma, kam es ihr vor, als habe sich eine düstere, schlammige, widerliche Schicht über die Wasseroberfläche geschoben, eine dicke, alles erstickende Schicht, die sich immer weiter ausdehnte. Das Blau, das Funkeln in Gold und Silber – alles weg, alles tot.
Tränen laufen ihr über das Gesicht.
24.
D ie Nacht verbrachte sie in einer Herberge für Rucksacktouristen in Haast. Sie ging am Strand spazieren, kaufte sich Fisch mit dicken, salzigen Pommes frites. Der Kiesstrand war stahlgrau, die See rauh und tosend. Trotz des eisigen Windes setzte sie sich für eine Weile in die Dünen, um die Brandung zu beobachten, die niederkrachte und Sand und Kies mit sich ins Meer riss.
Sie schlief gut, viel besser als erwartet, immerhin lag sie in einem Stockbett und teilte sich das Zimmer mit einer Gruppe australischer Touristen. Aber sie war erschöpft vom Autofahren. Vom Nachdenken.
Als sie aufbricht, fühlt sie sich ruhig und ausgeschlafen. Sie weiß nicht genau, wohin die Reise geht, außer dass sie sie nach Westport führt. Für die Zeit danach hat sie keine Pläne, sie ist nicht einmal überzeugt, dass sie ihn aufspüren wird. Und was soll sie in dem Fall tun? Trotzdem ist sie entschlossen. Ich muss es tun.
Die Fahrt ist lang. Als sie noch ein Kind war, reiste ihre Familie in den Ferien einmal an der Westküste entlang, um an der Golden Bay Urlaub zu machen. Die Fahrt dauerte beinahe eine Woche. Dave wollte sich Zeit lassen, möglichst viel von der Küste sehen. Unterwegs übernachteten sie in Motels. Wo immer sie auch hinkamen, gingen dichte, endlose Regenschauer nieder und nässten sie durch bis auf die Haut, sobald sie die Unterkunft verließen. Dave machte blöde Witze, während Minna schwieg und teilnahmslos durch die Windschutzscheibe starrte. Als sie schließlich über die letzte Kuppe fuhren und sich unter ihnen die Golden Bay erstreckte, kam die Sonne heraus und hörte für die nächsten zwei Wochen nicht zu scheinen auf. Minnas Laune verbesserte sich
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