Komm und küss mich!: Roman (German Edition)
einer Welle. Schnell hatte sie den Koffer abgestellt und sie wieder hineingedrückt, aber allein der Gedanke daran war ihr zuwider. Wenn sie eine einzige Sache in ihrem Leben hätte rückgängig machen können, dann diese: Nie wieder würde sie in diesem Kleid die Plantage verlassen.
Die Krinoline hatte inzwischen die Form einer Sauciere angenommen, vorn und hinten spitz zulaufend und seitlich zusammengedrückt durch den Koffer und das Kosmetikköfferchen. Letztere gaben ihr das Gefühl, ihre Arme könnten jederzeit abfallen. Bei jedem Schritt zuckte sie zusammen. Von den winzigen französischen Absätzen hatte sie bald Blasen an den Füßen, und jeder heiße Windstoß blies ihr Staub ins Gesicht.
Am liebsten hätte sie sich an den Straßenrand gesetzt und geweint, aber dann hätte sie wohl nicht wieder aufstehen können. Wenn sie bloß nicht so nervös wäre. Dann ließe sich alles leichter ertragen. Wie konnte ihr das nur passieren? Meilenweit war sie gelaufen, um die Tankstelle zu finden. Entweder gab es die gar nicht, oder sie war in die falsche Richtung gelaufen. Nur ein Hinweisschild auf einen Gemüsestand hatte sie gefunden, der war aber nicht aufgetaucht. Bald würde es dunkel sein, und sie war in einem fremden Land. Hinter den Pinien am Straßenrand lauerten womöglich wilde Tiere. Sie zwang sich, geradeaus zu sehen. Nur eins hielt sie davon ab, zur Plantage zurückzukehren: Sie würde es niemals schaffen.
Irgendwohin mußte diese Straße doch führen! Selbst in Amerika gab es doch keine Straßen ohne Ziel, oder? Der Gedanke war so entsetzlich, daß sie sich mit kleinen Gedankenspielen ablenkte, um sich in Bewegung zu halten. Die Zähne vor Schmerz zusammenbeißend, rief sie sich ihre Lieblingsorte ins Gedächtnis, alle Lichtjahre entfernt von den staubigen Landstraßen Mississippis. Sie dachte an Liberty’s in Regent Street, an die schöne Fachwerkfassade und den wunderbaren arabischen Schmuck, an die Parfüms in der Rue de Passy und
an alles in der Madison Avenue von Adolfo bis Yves Saint Laurent. Ein Bild schoß ihr durch den Kopf, ein Glas eisgekühltes Perrier mit einer Limonenscheibe. Also kommen schon die Halluzinationen, dachte sie. Aber das Bild war so angenehm, daß sie es nicht verscheuchte.
Das Perrier löste sich urplötzlich in die heiße Mississippiluft auf, als sie das Geräusch eines herannahenden Autos hinter sich wahrnahm und dann leichtes Quietschen der Bremsen. Bevor sie sich umdrehen konnte, klang eine weiche, gedehnte Südstaatenstimme zu ihr herüber.
»Hey, Darlin’, hat dir denn keiner gesagt, daß General Lee kapituliert hat?«
Der Koffer schlug ihr gegen die Knie, und der Reif wippte nach hinten hoch, als sie sich nach der Stimme umdrehte. Mit Mühe hielt sie ihr Gleichgewicht. Sie blinzelte, denn sie konnte nicht fassen, was sie da sah.
Aus dem Fenster eines dunkelgrünen Wagens lehnte sich ein Mann, der so unverschämt gut aussah, so verheerend schön, daß sie eine Sekunde lang glaubte, sie hätte ihn mit dem Perrier und der Limonenscheibe halluziniert. Sie spürte nicht, wie ihr der Griff des Koffers ins Fleisch schnitt, als sie die klassischen Linien seines Gesichts in sich aufnahm. Die sanft modellierten Wangenknochen und die aparte Kinnpartie, die gerade, makellose Nase und dann diese Augen, leuchtendblau wie die von Paul Newman, und die Wimpern so dicht wie ihre eigenen! Konnte ein sterblicher Mann solche Augen besitzen? So einen üppigen Mund? Und dabei so maskulin wirken? Das dicke, dunkelblonde Haar kräuselte sich über den Rand einer blauen Schirmmütze mit amerikanischem Flaggenmuster. Sie sah die wohlgeformten Schultern, die wohlgeformten Muskeln auf dem sonnengebräunten Arm und fühlte sich in Panik versetzt.
Endlich hatte sie ihr männliches Gegenstück getroffen. Er war genauso schön wie sie.
»Trägst du Geheimnisse der Konföderierten unter dem
Rock?« fragte der Mann mit einem Grinsen, das seine wunderschönen Zähne zeigte. Zähne wie aus den Reklameseiten …
»Ich glaube, die Yankees haben ihr die Zunge rausgeschnitten, Dallie.«
Jetzt erst bemerkte Francesca den zweiten Mann, der aus dem Rückfenster lehnte. Beim Anblick seines düsteren Gesichts mit finsteren Schlitzaugen wurde ihr angst und bange.
»Ja. Oder sie ist ’ne Spionin aus dem Norden«, fuhr er fort. »Hab’ noch nie ’ne Frau aus dem Süden getroffen, die so lange den Mund hält.«
»Spionierst du für die Yankees, Darling?« fragte Mr. Universe, wobei er wieder diese
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