Komm und küss mich!: Roman (German Edition)
hinuntergeschaut hatte. Hineinfiel. Was war in ihm vorgegangen, als er das Wasser schluckte und über sich das Licht sah? Hatte er an seine Mutter gedacht, die nicht bei ihm war und ihn herauszog, oder an seinen Daddy, der ihn so gern küßte und mit ihm tobte und ihn drückte, bis er schrie? Was hatte er in seinen letzten Sekunden gedacht, als seine kleinen Lungen sich mit Wasser füllten?
Blind vor Tränen schlang sie beide Arme um Dallie, preßte die Stirn an seine Schulter. »Das Leben wird uns von Gott geschenkt. Wir dürfen keine Bedingungen stellen«, sagte sie.
Dallie zitterte, sie hielt ihn fest, so gut sie konnte.
Francesca beobachtete die beiden von ihrem dunklen Versteck unter dem Pekanbaum aus. Die Nacht war still, sie hatte jedes Wort gehört. Ihr war übel … noch schlimmer als in der Kneipe. Ihr eigener Schmerz erschien ihr jetzt völlig unbedeutend verglichen mit dem hier. Sie hatte Dallie überhaupt nicht gekannt. Sie hatte nur den lachenden Texaner gesehen, der immer zum Scherzen aufgelegt war und das Leben nicht ernst nahm. Er hatte ihr seine Frau verschwiegen und den Tod seines Sohnes. Sie sah die beiden vom Kummer überwältigten Gestalten vor sich, sah, wie vertraut sie miteinander waren. So vertraut waren Menschen nur durch ein gemeinsames Leben, wenn sie Freude und Leid miteinander teilten. Sie erkannte,
daß Dallie und sie nur das Körperliche miteinander geteilt hatten, Liebe konnte viel tiefer gehen, als sie es sich vorgestellt hatte.
Dallie und Holly Grace verschwanden im Haus. Für den Bruchteil einer Sekunde hoffte Francesca ganz selbstlos, daß die beiden sich gegenseitig trösten würden.
Naomi war noch nie in Texas gewesen, und wenn sie selbst darüber zu entscheiden hätte, wäre es auch das letzte Mal. Als ein großer Lastwagen sie donnernd überholte, fühlte sie sich völlig fehl am Platz. Sie war ein Stadtmensch, die weite offene Straße vor ihr machte sie nervös. Vielleicht lag es auch nicht an der Autobahn, vielleicht störte Gerry sie, der mit ihr im gemieteten Cadillac fuhr und einen Flunsch zog wie ein unartiges Kind.
Als sie am Abend zuvor nach Hause kam, um den Koffer zu packen, hatte Gerry ihr eröffnet, daß er mit nach Texas käme. »Ich muß hier raus, bevor ich durchdrehe!« hatte er geschrien. »Ich gehe für einige Zeit nach Mexiko in den Untergrund. Ich fliege heute abend mit dir nach Texas, die Bullen auf dem Flughafen suchen nicht nach einem Paar – und dann verschwinde ich irgendwie über die Grenze. Ich habe Freunde in Del Rio. Die helfen mir. In Mexiko können wir uns neu organisieren.«
Sie hatte sich geweigert, ihn mitzunehmen, aber er hatte es ignoriert. Da sie ihn nicht mit Gewalt davon abhalten konnte, fand sie sich mit ihm im Flugzeug nach San Antonio wieder.
Sie streckte sich hinter dem Steuer und beschleunigte. Neben ihr stopfte Gerry die Hände tief in die Taschen der grauen Flanellhose, die er irgendwo aufgetrieben hatte. Er wollte wie ein vertrauenswürdiger Geschäftsmann wirken, was aber mit seinen langen Haaren nicht ganz gelingen konnte. »Entspann dich«, sagte sie, »keiner hat sich für dich interessiert, seit wir hier sind.«
»Die Bullen lassen mich nicht so einfach abhauen. Die spielen Katze und Maus mit mir. Die lassen mich bis an die mexikanische
Grenze, und dann schnappen sie zu. Ich kenne sie doch, diese verdammten Schweine.«
Der Verfolgungswahn der sechziger Jahre … Sie hatte ihn beinahe vergessen. Als Gerry von den FBI-Wanzen gehört hatte, vermutete er hinter jedem Schatten einen Bullen und in jedem neuen Mitglied der Bewegung einen Spitzel. Zwar war zu der Zeit äußerste Vorsicht geboten, aber die Angst hatte sich als bedrohlicher erwiesen als die Realität. »Bist du sicher, daß es der Polizei nicht völlig schnurz ist?« fragte Naomi. »Keiner hat sich nach dir umgeguckt, als wir ins Flugzeug gestiegen sind.«
Er funkelte sie böse an. Sie hatte ihn in seiner Ehre gekränkt, ihn, den vielgesuchten Flüchtling, Macho Gerry, den John Wayne der Radikalen. »Wenn ich allein gewesen wäre, hätten sie mich sofort bemerkt.«
Wirklich? Naomi hatte da ihre Zweifel. Die Polizei schien nicht besonders intensiv nach ihm zu suchen, egal was er selbst dazu sagte. Merkwürdigerweise stimmte sie das traurig. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sich die Polizei sehr eifrig für die Aktivitäten ihres Bruders interessiert.
Ein Schild kündigte die Stadtgrenze von Wynette an. Sie spürte eine freudige Erregung –
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