Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
Vom Netzwerk:
hatten wir das mal vorgehabt, aber das juristische Verfahren wurde nie abgeschlossen. Sie war für achtzehn Monate unser Pflegekind. Bevor sie zu uns kam, war sie in drei anderen Familien gewesen. Es hatte nie gepasst. Wir konnten das nicht verstehen. Sie war ein hübsches Mädchen mit einer anziehenden Persönlichkeit. Unsere Tochter Kathy hat sie angebetet. Für uns war unfassbar, dass ihre vorigen Familien sie so zurückweisen konnten.«
    Â»Sie hatten sie zurückgewiesen?«
    Â»Es geht immer mal etwas schief. Wir wissen nicht, warum das so ist, aber so schmerzlich es ist, wir müssen es akzeptieren. Jedenfalls war das damals unsere Einstellung. Ein Pflegekind verdient dieselbe Loyalität wie ein leibliches Kind. Wir hatten vorher schon Pflegekinder aufgenommen und sie waren immer eine so große Bereicherung für unser Leben gewesen. Meine Frau und ich lieben Kinder. Wenn wir gekonnt hätten, dann hätten wir selber ein Dutzend bekommen wollen.«
    Â»Sie haben Lia also aufgenommen?«, hakte ich sanft nach, denn ich hoffte, ihn so wieder aufs Thema zurückzulenken.
    Â»Wir dachten, es würde ganz großartig werden. Sie könnte eine Schwester für Kathy sein. Die beiden waren in einer Klassenstufe und sie verstanden sich wunderbar. Kathy brachte ihr das Reiten bei und die Mädchen unternahmen nachmittags nach der Schule und an den Wochenenden lange Ausritte ins Gelände. Wir haben Lia ihr eigenes Pferd gekauft. Und wir haben nie eins der Mädchen vorgezogen. Wir hatten das Glück, gut für beide sorgen zu können, und wir wollten, dass sie alles bekamen, was sie brauchten, um glücklich zu sein.«
    Â»Und war Lia glücklich?« Wie seltsam es war, mit jemandem zu sprechen, der mit Lia zusammengelebt hatte und sie nicht als Erscheinung, sondern als Tochter kannte.
    Â»Sie war es … und sie war es nicht«, sagte Mr Abbott langsam.
    Â»Wie meinen Sie das?«
    Â»Es gefiel ihr hier, aber manchmal wirkte sie niedergeschlagen. Dann ging sie in ihr Zimmer und schloss die Tür ab. Sie sagte, sie würde schlafen. Wenn sie geschlafen hat, dann war das wie der Schlaf einer Toten. Wir schafften es nicht, sie zu wecken, wenn jemand anrief oder wenn sie zum Essen kommen oder sonst was sollte. Das hat uns beunruhigt. So verhalten Menschen sich nicht, es sei denn, irgendetwas beschäftigt sie.«
    Â»Hat sie Ihnen erzählt, was es war?«
    Mr Abbott zögerte. »Sie hat gesagt …« Irgendwie klang er seltsam. »Sie hat gesagt, wir würden ihr zu sehr ans Herz wachsen.«
    Â»Aber wie kann das …«
    Â»Sie hatte Angst, sie könnte uns verlieren. Jedenfalls waren das ihre Worte. Das hatte sie früher schon erlebt, sagte sie. Immer, wenn sie sich irgendwo eingewöhnt hatte und das Gefühl hatte, dort hinzugehören, hatte die Familie beschlossen, dass sie sie nicht haben wollte. Sie sagte, auch bei uns sei sie nur ›leihweise‹. Es war herzzerreißend, mit anzusehen, wie verunsichert dieses junge Mädchen war. Deshalb beschlossen wir, sie zu adoptieren.«
    Â»Aber es hat nicht geklappt mit der Adoption?« Als er nicht antwortete, stellte ich eine andere Frage. »Wo ist Lia jetzt?«
    Â»Lass mich dir eine Frage stellen«, sagte Mr Abbott. »Ist dein Leben glücklich? Sind deine Eltern gute Menschen?«
    Â»Sie sind ganz fantastisch.«
    Â»Dann brich diese Suche ab. Kümmere dich nicht um Lia. Ihr habt nichts, was euch wirklich verbindet, ihr seid nur von derselben Frau zur Welt gebracht worden.«
    Â»So einfach ist das nicht«, sagte ich. »Diese Sache ist schon zu weit gegangen. Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen, aber ich muss sie finden.«
    Â»Nun, aber nicht hier«, sagte Mr Abbott. »Sie ist nicht mehr bei uns. Sie ist in einem Krankenhaus.«
    Â»Im Krankenhaus!«, rief ich. »Wollen Sie damit sagen, dass sie krank ist?«
    Â»Das ist sie und sie wird nicht wieder gesund. Wenn du herkämest, könntest du sie nicht besuchen. Sie darf keinen Besuch haben. Mein Rat an dich ist: Konzentriere dich ganz auf dein eigenes Leben …«
    Ein lauter Pfeifton ertönte und die Leitung war tot.
    Lange stand ich reglos mit dem Hörer am Ohr da. Die Verbindung musste abgebrochen sein. Wie war es nur möglich, dass alles, was ich wissen wollte, plötzlich zum Greifen nah gewesen war, nur um mir genauso plötzlich wieder durch die Finger zu gleiten?

Weitere Kostenlose Bücher