Kommissar Joakim Hill - 02 - Die Frau im Schatten
enden.«
»Wie bitte?«
»Was?«
»Meinen Sie, sie war religiös?«
»Nein, Solipsist.«
»Können Sie mir das bitte näher erklären?«
»Sie hatte bereits diese Einstellung, als ich sie zum ersten Mal traf. Solipsismus ist eine philosophische Lehre, die besagt, dass man selbst, und nur man selbst, vollkommen wirklich ist. Das eigene Leben ist ein Traum, und alle anderen sind die Statisten, wie im Theater. Da sie für einen selbst nicht wirklich sind, braucht man auch keine Rücksicht auf sie oder ihre Gefühle zu nehmen. Sie sind einfach nur da, um das eigene Leben interessant zu machen.«
»Mein Gott, was für ein Blödsinn …«
»Ja natürlich, aber sie hat tatsächlich daran geglaubt. Sie lebte regelrecht nach dieser Philosophie und nutzte alles und jeden zu ihrem eigenen Vorteil aus. Brachte die schmachtenden Jungs in ihrer Klasse dazu, ihre Aufsätze zu schreiben und die Hausaufgaben für sie zu machen, und überredete uns Mädchen, die Gruppenarbeiten – oder Partys – zu organisieren und sie regelrecht anzuhimmeln.«
»Aber … warum haben Sie sich nicht dagegen gewehrt? Oder mit ihr darüber gesprochen? Hat denn keiner irgendwann mal protestiert?«
»Möchten Sie wissen, warum Anne Smitt ihre Journalistenausbildung beendete, noch bevor sie ihr Examen hatte?«
Er hob in einer verlegenen Geste die Schultern, weil er wusste, dass sie es ihm sowieso erzählen würde.
»Weil ein gewisser Lektor Mattsson sich weigerte, ein Verhältnis mit ihr einzugehen. Und zwar ein Verhältnis, dessen Ziel es sein sollte, ihr das Semester anzuerkennen, obwohl sie sich kaum an der Uni hatte blicken lassen.«
»Und was hat sie dann gemacht?«
»Sie hat die Wirklichkeit verändert.«
»Die Wirklichkeit verändert?«
»Ja, sicher. Wenn ihr eine Situation nicht gepasst hat, hat sie sich einfach entzogen. Sie knallte die Tür zum Zimmer des Lektors so heftig hinter sich zu, dass es im ganzen Korridor zu hören war, ging dann ihrer Wege und ward nicht mehr gesehen. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass sie sich professionelle Übersetzerin nannte und nach Råå gezogen war.«
Lotta Jönsson spürte seine Zweifel.
»Wenn Sie Anne Smitt gekannt hätten, würden Sie verstehen«, erklärte sie ihm. »Sie hatte einfach eine unglaubliche Ausstrahlung.«
»Ja, aber zum Teufel …«
»Nein, ich glaube, Sie verstehen nicht«, beharrte Lotta Jönsson, und etwas in ihrer Stimme ließ ihn seine Einwände zurückstellen und ihren Ausführungen zuhören. »Filmsternchen mögen ja Charme haben, aber sie hatte eine magische Macht über die Menschen, denen sie begegnete. Und dabei handelte es sich nicht nur um Menschen, von denen sie einen direkten Nutzen hatte. Im Gegenteil, je weniger sie ihr bedeuteten, desto mehr Mühe verwendete sie oftmals darauf, sie mit ihrem Charme zu umgarnen. Das galt auch für völlig fremde Leute. Viele hätten sich dafür verbürgt, dass sie die wunderbarste Frau war, der sie bisher begegnet waren. Und viele werden sie genauso in Erinnerung behalten, bis sie selbst irgendwann sterben.«
Sie atmete tief durch und sog dabei die feuchtkalte Nachtluft ein, bevor sie weitersprach.
»Andere hingegen fanden ihr rücksichtsloses Streben nach Glück total abstoßend und waren der Meinung, dass sie früher oder später bekommen würde, was sie verdiente. Rücksichtslosigkeit erzeugt Hass, und derjenige, der hasst, schlägt irgendwann zurück. Ist es nicht so?«
Joakim Hill war derselben Ansicht, aber ihm fiel nichts ein, was er hätte erwidern können. Mit einem Schlag hatte Lotta Jönsson auch seine Vorstellungen von der Person Anne Smitt zunichte gemacht. Von einem erhöhten Sockel war die zur Heiligen Erhobene in rasanter Fahrt auf den Boden der Tatsachen befördert worden, wo sie in Windeseile zu einem berechnenden Raubtier mutierte.
»Dieser Nilsmed«, führte Lotta Jönsson weiter aus, »hat sie bestimmt als seine Eroberung betrachtet. Er hat geglaubt, dass er den Ton angeben und sie immer schön nach seiner Pfeife tanzen würde. Aber es war mit Sicherheit genau anders herum. Er hatte vermutlich noch nicht einmal den Hauch einer Chance. Nicht die geringste …«
Sie merkte, dass sie sich im Verhältnis zu ihrer relativ frischen Bekanntschaft viel zu sehr engagierte.
»Entschuldigung«, sagte sie, und jetzt sah er, dass sie nach all dem Warten ebenfalls erschöpft war, »aber wie man es auch betrachten mag, glaube ich nicht, dass Anne Smitt das Opfer des Dramas ist. Es hat eher die Familie
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